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Murat Çakır

»50 Jahre Römische Verträge«

Es war kein geringerer als Gottvater Zeus, der in Stiergestalt die phönizische Königstochter Europa nach Kreta entführt und dort vergewaltigt hat. Auch das alte Kontinent, das den Namen der Königstochter trägt, musste in seiner langen Geschichte Tage voller Gewalt, des Blutvergießens und der Tyrannen erleben. Gleichzeitig war es Europa selbst, das den Völkern der Erde den millionenfachen Tod, Ausbeutung, Gewalt und Imperialismus beschert hat – als ob Europa sich an der griechischen Mythologie rächen wollte.

Sicherlich hegten während des feierlichen Unterschreibens der Römischen Verträge am 25- März 1957 die europäischen Staatsmänner keinerlei solcher Gedanken. Doch unstrittig ist, dass die europäischen Völker Lehren aus den bitteren Erfahrungen der Weltkriege und des Faschismus ziehen wollten. »In varietate concordia« - Geeint in Vielfalt war die Losung, unter dessen Banner die europäische Integration sich vollziehen sollte. Damit »nie wieder!« ein Krieg in Europa stattfinde. Heute noch wird, wenn über Europa kritisch diskutiert wird, auf Argumente wie »wer an EU zweifelt, sollte ein Soldatenfriedhof besuchen« (Jean-Claude Juncker) hingewiesen.

So gesehen kann die EU mit ihren 27 Mitgliedsländern, einer Einwohnerzahl von rund 493 Millionen, 9,5 Billionen Bruttoinlandsprodukt, Wohlstand und ihrem relativ friedlichen Zustand durchaus als eine Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Das ist die Medaille, welche die EU-Eliten gerne an ihre Brust heften.

Die andere Seite aber offenbart etwas anderes: Die EU wird seit den 1980er Jahren, insbesondere nach den Umwälzungen von 1989/90 ein Europa des Abbaus sozialer und demokratischer Rechte, der Verstetigung von Massenarbeitslosigkeit und Armut, des Wettbewerbs der niedrigsten Sozial-, Ökologie- und Steuerstandards, der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen, der Unterordnung des Öffentlichen unter den Diktat der Kapitalverwertung. Ein Kontinent, in dessen gesellschaftlicher Mitte der Rassismus und Wohlstandschauvinismus verfestigt, die Außenpolitik militarisiert wird und in der die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Parlamente auf bürokratisch-autokratische Institutionen, deren demokratische Legitimation höchst umstritten ist, übertragen werden. Kurzum, es ist ein Europa zu sehen, die unter der Hegemonie der internationalen Märkte, den Weg in die Barbarei des Marktradikalismus eingeschlagen hat.

Das hat zur Folge, dass breite Teile der europäischen Gesellschaften zunehmend ihr Vertrauen in die EU, die EU-Institutionen und politische Akteure verlieren. Für viele Menschen ist die EU ein bürokratisch-autokratischer Koloss geworden, dessen Erweiterung und Festigung nur noch den Mächtigen und Reichen von Nutzen ist. Die eindeutige Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages in Frankreich und der Niederlande sowie die europaweite Widerstandsbewegung gegen marktradikale EU-Richtlinien, sind der Beweis dafür, dass breite Bevölkerungsschichten diese EU ablehnen.

Die neoliberale Politik der EU-Eliten verstärkt diese Grundhaltung. Gleichzeitig liefert die vehemente Militarisierung Europas, die Teilnahme – insbesondere Kerneuropas – an völkerrechtswidrigen Interventionskriegen und auf Macht- und Einflussinteressen gerichtete »EU-Nachbarschaftspolitik« Argumente dafür, dass Europa kein Friedens-, sondern Kriegstreiberkontinent geworden ist. Das ist das wahre Bild am 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge.

Der wichtigste Akteur bei der Entstehung eines solchen Bildes ist unzweifelhaft Deutschland. Die de facto große Koalition von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen arbeitet unbeirrt weiter daran, dass die EU und die EU-Peripherie nach diesem Bild umgestaltet wird. Deutschland ist der Motor dieser unsäglichen Entwicklung.

Aus einem einfachen Grund: Europa ist der wichtigste und größte Markt des Exportweltmeisters. Laut einer Statistik des Bundeswirtschaftsministeriums vom März 2007 verteilt sich der Exportanteil Deutschlands wie folgt: Eurozone 43,2 Prozent; übrige EU-Länder 20,2 Prozent; Länder der EU-Peripherie 17,3 Prozent; Asien 10,5 und die USA 8,8 Prozent. Das bedeutet: Rund 80 Prozent des deutschen Exports bleiben in Europa.

Das Kapital in Deutschland hat ihren Wunsch, unter dem Dach der EU eine Großmacht zu werden, weitgehend erfüllen können. Inzwischen werden rund 80 Prozent der Beschlüsse von Brüssel aus kontrolliert. Aber Brüssel wird von den Herrschenden in Deutschland und Frankreich kontrolliert.

Kurzum Europa kann sich heute noch von der Vergewaltigungen nicht retten. Der Unterschied zur griechischen Mythologie ist, dass den Part des Zeus das Kapital übernommen hat und die Völker die vergewaltigten Opfer sind.

Am 24. März 2007 veröffentlicht in der Tageszeitung »Yeni Özgür Politika«

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