Die Zukunft nach dem Gin-Tonic

Ken Loach über seinen Eisenbahnerfilm "The Navigators", den Zorn der Globalisierungsgegner, die Verbrechen der CIA und den Vorwurf des Antiamerikanismus

Von Katja Nicodemus

DIE ZEIT: Mr. Loach, Ihr neuer Film attackiert auf vehemente Weise die Privatisierung der britischen Eisenbahn. Warum halten Sie diese Maßnahme für so zerstörerisch?

Ken Loach: Es handelt sich um eine abwegige und völlig kontraproduktive, ja geradezu verrückte Aktion. Das alles fand 1995 und 1996 statt, es waren die letzten Privatisierungen der Tory-Regierung. Damals gab es großen Widerstand quer durch die britische Gesellschaft. Die Regierung überließ das Streckennetz miteinander konkurrierenden Firmen, die ihre Bereiche wieder an Subunternehmen weitervermieteten. Das Ergebnis war ein heilloses Chaos, in dem sich niemand auf verbindliche Weise für die Sicherheit der Passagiere verantwortlich fühlte.

ZEIT: In The Navigators folgen Sie einer Bahnbrigade in die neuen Arbeitsbedingungen. Der Druck und die schlechte Bezahlung führen zu einer gefährlichen Situation, einem echten Dilemma. Sie entdecken im neoliberalen Arbeitsalltag die Dimension einer griechischen Tragödie.

Loach: Glauben Sie mir, diese Ausweglosigkeit ist keineswegs übertrieben. Früher waren die Menschen, die das Streckennetz instand hielten, nicht nur gut ausgebildet. Die Organisation und Ausstattung der Arbeit erlaubte ihnen auch, eine Tradition fortzusetzen, in der Sicherheit immer oberste Priorität hatte. Nur durch diese moralische Aufladung konnte die im Grunde ziemlich stumpfsinnige Arbeit mit der Genauigkeit umgesetzt werden, die tatsächlich vonnöten war. Ganze Familien arbeiteten über Generationen bei der Eisenbahn, und es entstand ein Stolz, der mit dem anderer Handwerke absolut vergleichbar ist. Als die Bahn privatisiert wurde, ging das Sicherheitsbewusstsein dieses Berufsstandes verloren, weil ein Großteil der Männer nicht mehr bereit war, unter den neuen "flexiblen" Bedingungen ohne Kündigungsschutz zu arbeiten. Die Leute, die sie ersetzten, kannten sich nicht aus und waren vor allem nicht in der Lage, schnell und verantwortlich Entscheidungen zu treffen, die unter Umständen Leben retten oder Menschen das Leben kosten können.

ZEIT: Diese Entwicklung nimmt in Ihrem Film kriminelle Züge an.

Loach: Sicherheit ist ein Gut, das eine Gesellschaft nicht in die Hände einer profitorientierten Firma ohne jede Erfahrung auf diesem Gebiet geben kann. Zuvor war die Sicherheit absolute Priorität für die Leiter der Bahngesellschaft. Nun, da es allein um Kostenersparnis geht, wird die Verantwortung delegiert, und zwar an den kleinen Teilzeitarbeiter, der gerade die kaputte Weiche repariert. Dieser Mann steht unter enormem Druck, denn um die Arbeit profitabel zu halten, muss alles sehr schnell gehen. Wenn er die Arbeit stoppt, weil er Zweifel an der Sicherheit einer Weiche, eines Signals oder auch nur einer Schraube hat, dann wird er gefeuert. Wenn nicht dieses, dann eben beim nächsten Mal. Also wird er sich meistens für die zeitsparende Variante entscheiden. So arbeitet das System im Grunde permanent an der Abschaffung der Sicherheit. Es macht diese Männer tatsächlich zu Kriminellen. Das war bei der deutschen ICE-Katastrophe nicht viel anders. Warum, glauben Sie, hat der zuständige Techniker das Rad nicht ausreichend geprüft? Bestimmt nicht, weil er faul war. Aber auch da stehen nicht die Manager auf der Anklagebank, die die Sicherheit der Rentabilität geopfert haben. Was die britischen Privatisierungen betrifft, muss man den Gewerkschaften allerdings den Vorwurf machen, dass sie nicht in der Lage waren, den Widerstand, der aus allen Bevölkerungsschichten kam, zu bündeln.

ZEIT: In The Navigators arbeiten Sie wieder mit Laiendarstellern, diesmal aus der Gegend um Sheffield. Steht da Ästhetik gegen Überzeugung? Als Regisseur mit gewerkschaftlicher Solidarität müssten Sie doch eigentlich Berufsschauspieler beschäftigen.

Loach: Da gibt es tatsächlich einen Widerspruch. Aber ich versuche, ihn auf faire Weise zu lösen. Auf der einen Seite steht das Bestreben, einen möglichst authentischen Film zu machen, auf der anderen das Gefühl, den Profis die Arbeit wegzunehmen. Meine größere Loyalität gehört allerdings dem Film. Ein zentraler Punkt ist, dass die Laien natürlich die von der Gewerkschaft geforderten Löhne erhalten.

ZEIT: Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihr Anliegen und Ihre Zielgruppe auseinander driften? Die Menschen, deren Arbeitsbedingungen Sie in The Navigators schildern, holen sich wahrscheinlich eher Die Hard 2 aus der Videothek.

Loach: Es stimmt natürlich, dass nur wenige Arbeiter in ein Arthouse-Kino gehen. Andererseits laufen alle meine Filme auch im Fernsehen, und da gab es durchaus erstaunliche Resonanz aus der Arbeiterschicht. Davon abgesehen kann es nichts schaden, auch an die Solidarität anderer Bevölkerungsschichten zu appellieren. Aber ich sollte nicht pathetisch werden. Heute redet man ja schon von Solidarität, wenn sich Blair und Schröder zum Dinner treffen.

ZEIT: Früher konnten Ihre Filme Konkretes bewirken. Cathy Come Home, eine BBC-Dokumentation über Obdachlose, führte immerhin zu einer Parlamentsdebatte und zu einer Gesetzesänderung. Glauben Sie, das Kino kann immer noch etwas verändern?

Loach: Ich fürchte, der Effekt war damals schon begrenzt. Sie dürfen nicht vergessen, dass in Großbritannien heute mehr Obdachlose denn je unter katastrophalen Bedingungen leben. Und sollte das Kino tatsächlich eine verändernde Kraft haben, dann hätte dies vor allem fatale Folgen. In den meisten Filmen werden die Probleme ja gelöst, indem jemand mit einer Knarre kommt und die anderen über den Haufen schießt. Die Ideologie des Mainstreams ist durch und durch rechts und autoritätsfixiert. Also hoffen wir mit Gott, dass der Einfluss auf das Bewusstsein nicht allzu stark ist, sonst sind wir alle aufgeschmissen. (lacht)

ZEIT: Zwischendurch sah es einmal so aus, als hätten linke Ideen keinerlei Konjunktur. Auch für Sie war es schwer, neue Filme finanziert zu bekommen. Doch in den letzten Jahren entstand auf internationaler Ebene Widerstand gegen einen sich verselbstständigenden Kapitalismus. Freut es Sie, dass Sie, systemtheoretisch gesprochen, wieder anschlussfähig sind?

Loach: Natürlich macht es mich glücklich, zu sehen, dass das, nun ja, nennen wir es gesellschaftliches Projekt, an dem ich seit fast vierzig Jahren mit meinen Filmen teilnehme, in den vergangenen Jahren von jüngeren Menschen aufgenommen und wiederbelebt wurde. So laufe ich nicht Gefahr, irgendwann als weltfremder Opa allein auf weiter Flur zu stehen. Aber auch ich sehe das Problem, dass viele kleine Gruppierungen allein herumwursteln und sich nur an symbolisch brisanten Orten, wie etwa Genua, zusammenfinden. Ich wünschte, all diese Energie könnte auf produktivere Weise gebündelt werden. Zum Beispiel ist das Demolieren nordeuropäischer Innenstädte alles andere als produktiv. Wenn Sie aber auf der anderen Seite die strukturelle Gewalt sehen, mit der ein Land wie die Vereinigten Staaten seine Interessen durchsetzt, dann wird schnell klar, dass der Zorn und die Gewalt dieser Jugendlichen zum Teil durchaus gerechtfertigt oder zumindest verständlich sind. Im Übrigen ist diese Gewalt nur ein marginaler Aspekt angesichts eines überwältigenden Engagements, das vonseiten des Establishments in keiner Weise als positiv erkannt wird. Denn es geht ja durchaus nicht um etwas Zerstörerisches, sondern um Menschen, denen irgendwann klar geworden ist, dass ihre Zukunft über den nächsten Gin-Tonic, den nächsten Hemdenkauf, überhaupt über den eigenen Horizont hinausreicht.

ZEIT: In Ihrem Beitrag zu dem Episodenfilm 11:09:01 sprechen Sie den Angehörigen der Opfer des World-Trade-Center-Anschlages Ihr aufrichtiges Beileid aus. Gleichzeitig erinnern Sie an den Terror, den die CIA beispielsweise in Chile zu verantworten hat. Das hat Ihnen in den USA den Vorwurf des Antiamerikanismus eingetragen.

Loach: Zunächst habe ich immer zwischen den Bürgern der Vereinigten Staaten und ihrer jeweiligen Regierung differenziert. Einige der humanistischsten Menschen, die ich kenne, sind Amerikaner. Gleichzeitig habe ich aber das Gefühl, dass ein Land, das vor nicht allzu langer Zeit Napalm auf Zivilisten geworfen und in Chile eine demokratisch gewählte Regierung durch einen Diktator und sein folterndes Militär ersetzt hat, sich nicht anmaßen kann, plötzlich mit biblischer Trennschärfe über alles Gute und Böse zu richten. Die staatliche Gewalt, die auf das Konto der Vereinigten Staaten geht, übersteigt fast alles, was ansonsten in der Welt vor sich geht. Und dieses Land ist gerade dabei, die Fundamente des internationalen Staatenrechts, die wir doch gerade den Amerikanern verdanken, auf irreversible Weise zu beschädigen. Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir nicht um Revanchismus, eher um eine Demut gegenüber der eigenen Geschichte und Verantwortung. Die Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der die Diskussion um Krieg und Gewalt derzeit geführt wird, ist jedenfalls kaum zu ertragen.

Ken Loach, Jahrgang 1936, ist Englands bekanntester Independent-Regisseur. Er erzählt von Arbeitern, so genannten kleinen Leuten, ihre gescheiterten Träumen und steht für ein kämpferisches Kino

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