Mart 2004 / März 2004

Der Erste Weltkrieg und die Armenier-Frage*

Prof. Dr. Stefanos Yerasimos

Die Uneinigkeit, oder besser gesagt, der Chaos in der Armenier-Frage kann im Kern als ein Widerspruch zwischen der Geschichtsforschung und Rechtsverständnisses bezeichnet werden. Obwohl diese Frage als eine rechtliche Frage des Völkerrechtes bewertet werden müsste, drehen sich die Diskussionen stets um den Begriff des "Völkermordes", welches unterschiedlich aufgefasst wird und diese Auffassungen sich wiederum im Verlaufe der Zeit stets ändern.

In diesem Diskurs benutzen die Parteien die Geschichtsschreibung selektiv. So wird die Geschichtsschreibung, die an sich die Ereignisse im Zusammenhang von Grund und Ergebnis wiedergibt, von der ganzheitlichen Wiedergabe zur Belegsammlung degradiert, aus der alle ihren juristischen bzw. quasi juristischen Argumentationen passende Beweise herauspieksen. Somit wird die Geschichte zur Geisel der rechtlichen Auffassungen gemacht.

Bevor ich mich dem Thema widme, möchte ich zwei Sachen unterstreichen: Ich bin nicht der Auffassung, dass ich ein Spezialist in der Armenier-Frage bin. Über dieses Thema habe ich auch kein Buch verfasst. Dennoch hatte ich in den 70er Jahren im Rahmen einer Arbeit über den Ersten Weltkrieges und den (türkischen) Befreiungskrieges Untersuchungen angestellt, um dieses Thema anzugehen. Am Ende habe ich dieses Vorhaben nicht weiter verfolgt. Der Grund dafür war meine Einsicht, dass in einer von tiefer Polemik beeinflussten Lage, durch den Beitrag eines Einzelnen kein Konsens gefunden werden kann.

Aus diesem Grund sollte meine Rede auch nicht als ein Versuch, eine Initiative zu beginnen verstanden werden. Es geht nur um den Meinungsaustausch.

Das Recht und die Geschichtsschreibung stehen sich gegenüber

Das Ziel des Rechts ist es, etwas zu beweisen. Die Geschichte jedoch hat das Ziel zu erklären. Das Recht urteilt; aber die Geschichte hält sich von einer Bewertung zurück. Der Zweck der Geschichtsschreibung ist es, Geschehnisse möglichst Realitätsnah im Zusammenhang der Gründe und Ergebnisse darzulegen und die Bewertung dem Leser zu überlassen.

Als Beispiel: die Aussage, dass der Druck den Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg über Deutschland ausübte, die Machtübernahme des Hitler-Regimes begünstigt habe, bedeutet nicht die Befürwortung dieses Regimes.

In dieser Situation braucht das Recht Geschichtsdaten; aber dafür ist eine vom Recht unabhängige Geschichtsschreibung notwendig. Im umgekehrten Fall kann die Geschichtsschreibung keine Rechtsaussagen benutzen. Die Geschichtsschreibung ist kein Unter- bzw. Unterstützungsfach des Rechts. Aus diesem Grund ist es, um sich von dem Begriffswirrwahr zu befreien, notwendig, die historischen und rechtlichen Denkweisen von einander zu trennen. Anders gesagt, es muss eine, von rechtlichen Bedenken und Hintergedanken befreite Geschichte geschrieben werden.

Dafür sollte man sich bemühen, die heutigen Werte und Begrifflichkeiten nicht für die verschiedenen Epochen der Geschichte gelten zu lassen.

Auch hierfür können Beispiele genannt werden: die Ächtung der römischen Zivilisation wegen Sklaverei oder das Distanzieren von der osmanischen Geschichte wegen Zwangsmuslimisierung der unterjochten Menschen bzw. wegen den Brudermorden unter den Padischachs.

Ist der "Völkermord" Anachronismus?

Die Völkermorddiskussion in dieser Form können wir als Anachronismus bezeichnen, aber bei dem Themenverständnis, was uns hier interessiert, gibt es einen wichtigeren Anachronismus. Das Vermischen der Begriffe "Vielvölkerstaat" (Imperium) und Nationalstaat, sowie die Betrachtung des Ersteren aus der Sicht des Zweiteren.

Die türkische Seite betrachtet die Ereignisse aus der Sicht der Niederschlagung eines Aufstandes, der im Kern als Staatsverrat verstanden wird. Diese Sichtweise gilt für alle Befreiungsbewegungen der Völker, die sich von den Osmanen lösen wollten. Der arabische Aufstand von 1916 ist Verrat; genau wie das Aufbegehren der Balkan-Völker im 19. Jahrhundert. Dabei geht es hierbei um den universellen Prozess des Überganges von Vielvölkerimperien zu Nationalstaaten. In dem im 19. Jahrhundert begonnenen Prozess wurden die österreichisch-ungarische und osmanische Imperien aufgelöst. Die Auflösung des russischen Imperiums ist heute noch im Gange.

Die armenische Seite wiederum will die Ereignisse, ohne diesen Prozess in Betracht zu ziehen, mit einer abstrakten rassistischen Erklärung darstellen. Gemäß dieser Sichtweise begründet sich im Endeffekt, die Vernichtung der Armenier durch die Türken in deren Barbarei; so bekommt die Entstehung des dargelegten Grunds ein rassistische Bedeutung.

Insofern können wir die Armenische-Frage als die tragischste Seite der Völkerbefreiung während der Auflösung des osmanischen Imperiums bezeichnen. Aber, dass es so kam, hat seine Gründe und diese müssen erforscht werden. Hier werde ich versuchen einige Punkte aufzuzählen.

Der Aufstand der Völker im osmanischen Imperium und die erfolgreiche Beendigung dieser Aufstände durch die Gründung der Nationalstaaten begründet sich auf drei grundsätzlichen Voraussetzungen:

1. Das Vorhandensein einer reichen und studierten Klasse, welches die intellektuelle und operationelle Basis des Aufstandes vorbereiten, also die Aufklärung und Organisierung durchführen konnte

2. das konzertierte Zusammenleben der Massen, die den Aufstand verwirklichen und die zukünftige Staatsgemeinde ausmachen werden, in einem Gebiet

3. Unterstützung aus dem Ausland, also Unterstützung der großen Mächte der Zeit.

Die armenische Frage entstand, weil die zweite Voraussetzung, also die Mehrheit einer armenischen Bevölkerung in einem Gebiet fehlte. Das hat die anderen Voraussetzungen beeinflusst: Insbesondere die reichen und intellektuellen armenischen Massen, die in Istanbul lebten, haben von Anfang an die Organisierung dieser, von Anfang an zum Scheitern verurteilten Sache abgelehnt. Die Organisation wurde den regionalen mittelständischen Klassen überlassen und hat sich deshalb radikalisiert. Weil die regionale Mehrheit fehlte, war der Erfolg des Aufstandes von der Unterstützung aus dem Ausland abhängig; dabei haben eben diese Gründe dafür gesorgt, dass die Unterstützung bis zum Ersten Weltkrieg sehr zaghaft war. Während die griechischen, serbischen und sogar arabischen Aufstände diese Völker mit den Verteidigungskräften des osmanischen Reiches gegenüber brachte, ging es bei der armenischen Frage um den direkten Konflikt der türkischen und armenischen Nationalismen. Der eine Grund hierfür war, wie ich oben beschrieben habe, dass in dem selben Gebiet Armenier, Kurden und Türken lebten; der zweite Grund war die Entstehung des türkischen Nationalismus als der armenische Nationalismus verstärkt wurde und sich beide Nationalismen gegenseitig beeinflussten.

"Umstrittene" Ereignisse

1. Der Beginn der armenischen Frage liegt in der Zeit, als in den Jahren 1830 - 1834 die osmanische Regierung kurdische Großfamilien sesshaft machen wollte. Der Druck, den die sesshaft gewordenen Kurden auf armenische Dörfer ausgeübt haben, hatte für Unruhe gesorgt und die ersten armenischen Widerstände und Organisationen hervorgebracht.

2. Der bulgarische Aufstand von 1876, der russisch-osmanische Krieg von 1877-78 und die Beschlüsse der Berliner Konferenz von 1878 über die Reformen in den östlichen Provinzen, haben die Idee, das Beispiel von Bulgarien anzunehmen unter den armenischen Organisationen begünstigt. Also, einen Aufstand in den Regionen, in denen keine Mehrheit sich befindet anzuzetteln, durch Angriffe die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und wegen den staatlichen Reaktionen den Eingriff der Auslandsmächte durch die entstandene internationale Öffentlichkeit erreichen. Aber diese, in den Jahren 1893-1894 beginnenden Initiativen haben aufgrund der internationalen Lage, insbesondere die britisch - russischen Beziehungen, dazu geführt, dass eine ausländische Intervention ausblieb und die von der Zentralregierung mit Hilfe der kurdischen Hamidiye Divisionen durchgeführte Niederschlagungsaktion keine Reaktionen hervorrief.

3. Die nächste Phase beginnt mit den Balkan - Kriegen. Während die Kriege auf dem Balkan Signale der Auflösung des osmanischen Imperiums gaben, führten sie zugleich zur Entstehung des türkischen Nationalismus.

Wie der Krieg von Tripolis das Ende der osmanischen Ära in Afrika einleitete, brachte der Balkan Krieg das Ende der osmanischen Ära in Europa. Nun war Zeit gekommen, für die Ländereien in Asien. Dieses Verständnis entfachte die armenische Frage wieder.

Jedoch, die Niederlage auf dem Balkan und die Einwanderung nach Anatolien hatte einen wichtigen Einfluss. Die osmanische Regierung, in diesem Zusammenhang insbesondere Ittihat ve Terakki Partei (Partei für Union und Fortschritt) war der Meinung, dass eine Politik des Festhaltens an einem Vielvölkerimperium nicht weitergeführt werden konnte und stattdessen, wie die Völker, die sich von den Osmanen losgelöst haben, eine nationale Politik verfolgt werden müsste, da ansonsten die Gefahr der vollständigen Auflösung vorhanden war. Somit ordnet sich die osmanische Staatsführung einer türkischen Nationalpolitik unter und diese Politik wird ab diesem Datum für Anatolien, welches als die Heimat der Türken aufgefasst wird, weitergeführt.

Dem gegenüber fordern die armenischen Organisationen im osmanischen Staat ab Ende 1912 für sechs Ostprovinzen Autonomie. Jeder weiß, dass in einer Zeit der Auflösung des osmanischen Imperiums diese Autonomie der Anfang eines Weges in die Unabhängigkeit ist. Durch den Druck Russlands und der sechs großen Staaten Europas wird im März 1914 das Autonomieprojekt gegen die osmanische Regierung durchgesetzt. Gemäß diesem Projekt sollen sich die sechs Provinzen vereinigen, ein Provinzparlament mit armenischer Mehrheit gebildet werden und dem Gouverneur werden ausländische Kommissare beigeordnet. Deshalb kamen Anfang August 1914 der norwegische Kommissar Hoff und sein niederländischer Stellvertreter W. Stenenk nach Erzurum.

Die Wende: Armenier – Frage während des Ersten Weltkriegs

In dieser Situation wurde der Beginn des Ersten Weltkrieges und die Teilnahme des osmanischen Staates am Krieg als Lösung des Problems angesehen. Aber, wann begann der Prozess, der mit den Zwangsumsiedlungsbeschluss endete? Weil die Sichtweise, die die Ereignisse vom rechtlichen Aspekt betrachtet, auf der Suche nach Vorsatz ist, ist dieser Punkt sehr umstritten. Die Gründung der Teşkilatı Mahsusa (Geheimdienst) wird als Beginn des Projekts, Anatolien von nichtmuslimischen Gruppen zu säubern, dargestellt. In der tat, Teşkilatı Mahsusa wurde gegen die “inneren Feinde” gegründet und nach 1913 wurden nichtmuslimische Gruppen in Anatolien mit der “Innere Feinde” – Definition von Ittihat ve Terakki gleichgesetzt. Dennoch ist es nicht glaubhaft zu behaupten, dass zwischen 1913 und 1914 über eine generelle ethnische Säuberung gedacht wurde (obwohl einige kleinere Aktionen im Rahmen der Resignationspolitik gegen die griechischen Einwohnern der ägäischen Küsten und Ost-Thrazien stattfanden). Der Grund hierfür war, dass es damals noch nicht feststand, ob und wann der Krieg beginnen und der osmanische Staat auf wessen Seite in den Krieg eintreten würde. Ausserdem war in den ersten Kriegsmonaten die Meinung – so auch in Europa -, dass der Krieg kurz dauern und die Verlierer den Frieden anbieten würden, weit verbreitet. In diesem Zusammenhang war es nicht wahrscheinlich, dass eine Zwangsumsiedlungs- und Vernichtungspolitik vor Ende 1914 geplant oder gedacht wäre. Dennoch ist es möglich, dass einige Ittihat ve Terakki – Ideologen wie Bahaettin Sakir oder Dr. Nazim Überlegungen angestellt haben, um Anatolien von “ausländischen Elementen” zu säubern.

Die rechtliche Seite sucht hier nach Dokumenten, die “Tatbeweise” sein könnten. Das Nichtvorhandensein eines solchen Dokumentes wird im Gegenzug als Verteidigung bzw. Widerlegen der Behauptungen verstanden. Die Geschichtsschreibung beachtet dies nicht. Anstatt danach zu forschen, wer Schuldig sei oder welche Beweise und Gegenbeweise vorliegen, sollte erforscht werden, wie Realitätsnah der Ereignisverlauf ist.

Als im August 1914 in Europa der Krieg beginnt, ruft die osmanische Führung die generelle Mobilmachung aus: Armenische Geistliche rufen die osmanischen Armenier auf, auf Seiten der Russen in den Krieg zu ziehen. Die generelle Mobilmachung ist für die osmanische gesellschaft etwas neues und stößt bei den Nichtmuslimen, die nie als Soldaten zu dienen hatten, auf Ablehnung.In den Gebieten, in denen mehrheitlich Armenier leben, die seit den Ereignissen von 1893 – 1894 dem Staat kritisch gegenüberstehen, desertieren viele in Hacin, Zeytun und Sasun und verstecken sich in den Bergen.

Diejenigen, die Nähe der russischen Grenze leben, werden mit Hilfe der Dasnak – Organisation (eine armenische Organisation) flüchten über die Grenze. Mit ihnen gründen die Russen vier Freiwilligentruppen. Obwohl ihre Zahl nicht sehr hoch ist, werden sie als Stosstruppen eine wichtige Rolle übernehmen.

Ansonsten ist keine weitere Bewegung zu sehen. Obwohl armenische Parteien auf dem Land und in den Städten, in denen mehrheitlich Armenier leben, organisiert sind, ist kein Aufstand zu sehen; der eigentliche Grund hierfür liegt in dem Glauben, dass die Russen diese Gebiete sehr schnell in die Hand bekommen werden.

Als im November der Krieg beginnt, schicken die Russen die vier Freiwilligentruppen der Armenier. Die greifen insbesondere die muslimischen Dörfer, die nahe der Grenze und ihren eigenen Dörfern liegen. Die als Soldaten eingezogenen Einwohner dieser Dörfer desertieren und kommen zur Verteidigung ihrer Dörfer zurück. So wird das Gebiet zwischen Erzurum und Van in dem Winter 1914 – 1915 zu einem Kriegsgebiet der türkischen, kurdischen und armenischen Dorfbewohnern. Als nach der Sarikamis – Operation die russischen Truppen und die armenischen Freiwilligen sich zurück ziehen, emigrieren die unter Druck stehenden Bewohner der armenischen Dörfer nach Van. Somit wuchs die armenische Einwohnerzahl von Van.

Vor Beginn der Sarikamis – Operation fordern die Russen, die den Einmarsch der osmanischen Armee in den Kaukasus befürchten, von den Briten und den Franzosen eine zweite Front gegen die Osmanen zu eröffnen. Der britische Kriegsminister Lord Kitchener sieht diese Aufforderung als einen Chance für die Gründung eines arabischen Königreichs unter britischem Einfluss und schlägt vor, mit der Invasion von Iskenderun eine zweite Front zu eröffnen (Anfang Januar 1915). Während über dieses Projekt diskutiert wird, überlegt sich Kitchener, dass die armenischen Deserteure in den Bergen von Kilikya als eine zusätzliche Kraft benutzt werden könnten und sendet dem Intelligence Service Büro in Kairo diesbezüglich einen Brief. Diese wiederum schreiben mit Hilfe der in Kairo ansässigen Armenier, die Armenier in Hacin und Zeytun an.

Dieser Brief jedoch gerät in die Hände der Osmanen; die Muslime in und um Maras erfahren dies auch und verlangen die Umsiedlung der Armenier, in denen sie nun Feinde sehen. So beginnen im Februar 1915 ohne einen generellen Beschluss und mit großer wahrscheinlichkeit auch ohne eine in dieser Frage festgesetzte Politik, kommunale Umsiedlungen. Aber keiner weiß, wohin die Umgesiedelten hin sollen. Sie werden in die Bagdatbahn gesetzt und nach Mittelanatolien, genauer gesagt nach Konya geschickt.

Während dieser Zeit wurde in London durch das Intervenieren der Franzosen und des Marineministers Churchill von einer Invasion Iskenderuns abgesehen und die Dardanellen – Operation beschlossen. Nachdem in der Schlacht von Iskenderun die osmanische Armee vernichtet wird, bereiten sich die Russen auf einen Gegenangriff vor. Um wieder nicht geschlagen zu werden, warten sie jedoch den Frühling ab. Im April sammeln sich die vier armenischen Truppen in Eriwan. Währenddessen wurde in den Wintermonaten von den, aus Kaukasus flüchtenden Armeniern eine fünfte Truppe gebildet. Sie alle bekommen die Aufgabe, Van anzugreifen. Um diesen Angriff zu unterstützen beginnen die Armenier in Van mit einem Aufstand. Als die Nachricht von diesem Aufstand Istanbul erreicht, wird der Zwangsumsiedlungsbeschluss gefasst.

Der Aufstand von Van kann als ein Vorwand für einen vorher gefassten Beschluss verstanden werden. Es kann durchaus sein, dass die Regierung in Istanbul mit einem großen Aufstand der Armenier gerechnet hat. Die kritische Situation in den Dardanellen und der Angriff der Russen im Osten kann zu einer panischen Reaktion geführt und einen Beschluss, Maßnahmen gegen den „inneren Feind“ einzuleiten begünstigt haben.

Bei der Diskussion um den 24.April und die Zeit davor haben beide Parteien unterschiedliche Vorgehensweisen. Die armenische Seite sucht in der Zeit vor dem 24.April „Vorsatz“ und spricht nicht über die Ereignisse, die zur 24.April führten, insbesondere nicht über Autonomiebestrebungen in den Jahren 1912 – 1914 und führt die Zeit nach dem 24.April mit allen tragischen Details vor. Die türkische Seite versucht diese Zeit, da sie als unabwendbare Folge der vorhergegangenen Ereignisse gesehen werden, zu überfliegen und erläutert insbesondere die armenischen Angriffe seit 1917. Manchmal jedoch werden die Zeiten zwischen 1915 – 1917 und zwischen 1917 – 1921 zeitlich gleichgesetzt und sämtliche Ereignisse als gegenseitige Bekämpfungen dargestellt.

Hier sollten einige Tatsachen unterstrichen werden:

1. Die Zwangsumsiedlungen wurden nicht nur in den Grenzgebieten, sondern außer Istanbul und Izmir, im ganzen Land durchgeführt.

2. Für die Organisation der Umsiedlungen wurde die Armee nicht eingesetzt, sondern Teilweise die Gendarmerie und Teilweise Milizen, die von Teskilati Mahsusa und Ittihat ve Terakki organisiert wurden.

3. Ob die Zwangsumsiedlungen nur Umsiedlungen waren oder ob dabei auch die Absicht der Vernichtung gehegt wurde, wird als zentrale Frage der Diskussionen aufgeworfen. Als Eingang zu diesem Thema können wir uns vorstellen, dass die Absichten nicht immer dieselben waren.

Das Beckett - Syndrom

Hier möchte ich von einem Beispiel, den ich Beckett – Syndrom bezeichne, geben. Während eines Gespräches mit seinen Rittern erwähnt Henry II., dass ihm die Opposition des Bischofs von Canterbury leid sei und fragt „Kann mich denn niemand von diesem Menschen befreien?“. Einer seiner Ritter ermordet später den Bischof. Henry II. weist aber alle Schuld von sich und bestraft den Ritter. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich während der faschistischen Regierung in Italien des 20. Jahrhunderts. Die Anhänger Mussolinis ermordeten den sozialistischen Abgeordneten Mateotti, nachdem der Diktator sich über ihn beschwert hatte. Auch in unserer Geschichte gibt es ein ähnliches Beispiel. Mustafa Kemal (Atatürk) verlangt von dem General Kazim Karabekir, dass er Mustafa Suphi (Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Türkei – Anm. d. Übersetzers) davon abhalten solle, nach Ankara zu gelangen. Daraufhin schickt Karabekir Mustafa Suphi zur Ausweisung nach Trabzon. Die dortigen Behörden verstehen dies als Auftrag zum Mord. So kann man sagen, dass das Beckett – Syndrom als ein Prozess der Überschreitung der Absicht bzw. als ein Prozess, der sich von oben nach unten, vom Absicht zur Tat bewegt, bezeichnet werden kann.

Die Meinung, die in den Jahren 1914 – 1915 verbreitet war, war, dass die Heimat keine zwei Herren haben könne. Dies begründete die Psychologie „entweder sie oder wir“ und führte zu der Erkenntnis, dass man sich den Armeniern entledigen sollte. Wie dieses „Entledigen“ zu funktionieren hatte, wurde je nach Situation und Ort beschlossen.

Wenn man die Details der Ereignisse anschaut, sieht man, dass die Tötungen meistens in grenznahen Regionen stattfanden. Weil man dachte, dass die erwachsenen Männer flüchten und als Soldaten dem Feind dienen würden, wurden sie während der Umsiedlungen nach und nach vernichtet. In Mittel- und Westanatolien wurde größten Teils darauf verzichtet.

Im Endeffekt starben sehr wahrscheinlich die meisten durch die Hitze, Kälte, Hunger und durch Krankheiten. Aber dies sollte nicht als ein Nebeneffekt oder unerwartete Folge angesehen werden. In einer Zeit, in der der größte Teil der männlichen Bevölkerung des halbverhungerten Anatoliens mobil gemacht wurde, war die Folge einer millionenfachen Umsiedlung von Anfang an bekannt. Die deutschen und österreichischen Konsule in Anatolien hatten noch als dieser Umsiedlungsbeschluss gefasst wurde, darauf hingewiesen.

Gleichzeitig ist es bekannt, dass in nicht mobilisierten traditionellen Gesellschaften solche Zwangsumsiedlungen zu großen Verlusten führen. Bei den Tschetschenen und Inguschen, die 1944 mit Eisenbahnwaggons nach Sibirien versandt wurden, lag die Verlustrate, obwohl kein Tötungsversuch vorzuwerfen ist, bei 40%. In einer solchen Situation ist es verständlich, welche Verluste eine Umsiedlung von Kindern, Frauen und alten Menschen, die von Izmit in die syrische Wüste zu Fuß gehen mussten, verursachen kann.

Außerdem müsste man, um die Ereignisse und Verluste während des Transports nachvollziehen zu können, die gesellschaftliche Psychologie und Reaktionen in solchen außergewöhnlichen Situationen erforschen. Wenn ein Teil der Gesellschaft nicht mehr unter dem Schutz der Regierung steht; wenn deren Eigentum den anderen Teilen der Gesellschaft frei zugesprochen wird; wenn die Umgesiedelten nicht mehr als Menschen erkannt werden, werden sie zum Ziel jeglicher Angriffe. So minimierten sich die Menschenkolonnen auf dem Weg. Hier vermischen sich Mitleid und Grausamkeit; hier werden, manchmal ohne ersichtlichen Grund die Kinder von Menschen, die zuvor als „Nichtmenschen“ vernichtet worden sind, wie eigene Kinder aufgezogen. Ab einer solchen Situation ist es notwendig, um die Ereignisse im vollem Umfang verstehen zu können, die Hilfe der Wissenschaften, die das Unterbewusstsein der Gesellschaft erforschen, hinzuziehen.

Wie Viele starben?

Ich nehme an, dass ca. 600 bis 800 Tausend Menschen gestorben sind. Hierfür nehme ich die armenische Einwohnerzahl von 1,5 Millionen als Grundlage an. Die von der armenischen Seite genannte Zahl von 2,5 Millionen ist übertrieben, aber es kann auch sein, dass die osmanische Einwohnerzählung manipuliert worden ist.

Zu armenischen Racheakten: Diese begannen, als im Sommer 1915 die russischen Armeen die Region um den Vansee einnahmen und gingen 1916 in den Regionen Van – Mus – Bitlis sowie zwischen Erzurum und Erzincan weiter.

Die letzte Phase dieser Racheakte fand statt, als Ende 1917, Anfang 1918 die russischen Truppen aufgelöst wurden und sich aus Anatolien zurückzogen. In dieser Zeit wurde die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung, die sich vor russischen Invasion nicht mehr retten konnten, umgebracht. In dieser Zeit berichteten ausländische Korrespondenten davon, dass diese Regionen gänzlich Menschenleer seien.

Wenn wir von der Vergangenheit, dessen Umrisse ich nur allgemein geben konnte, zur heutigen Zeit kommen, ist zu sehen, dass die Diskussion sich um den Begriff des „Völkermordes“ einengt. Dabei ist dieser Begriff, aufgrund des Verständnisses in der Weltöffentlichkeit, sehr schwammig geworden. Der Begriff des Völkermordes wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der UN 1948 auf der Basis des Völkermordes, der durch Nazi-Deutschland an Juden verübt wurde, aufgebaut. Es ist offensichtlich, dass diese Tatsache mit den Ereignissen um die Armenier nicht gleichgesetzt werden kann. Aber mit der Zeit wird der Begriff ausgeweitet und oberflächlich benutzt. So wurde z.B. am 2.August 2001 der serbische General Radislav Kristic als Verantwortlicher an dem Mord an 7500 Personen in Srebrenica von den Internationalen Strafgericht wegen Völkermord angeklagt und zu 46 Jahren Haft verurteilt. Dabei müssen die Ereignisse von Srebrenica im Rahmen des Begriffes Bürgerkrieg betrachtet werden und können mit den Ereignissen von 1915 verglichen werden. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Forderung der aserbaidschanischen Regierung, die Ermordung von mehr als 600 Menschen 1993 in Hocali als Völkermord anzuerkennen.

Was muss jetzt gemacht werden?

Von meinen Ausführungen ist herauszuhören, dass man mit einer rechtlichen Betrachtung nicht zu einer Lösung des Problems kommt. Das erste was gemacht werden muss ist, ohne die rechtlichen Bedenken zu betrachten, die Geschichte zu schreiben. Aber dafür müssen folgende Voraussetzungen erfüllt werden:

1. Eine solche Arbeit kann nicht von einer Person bewältigt werden. Wie sehr gelehrt und angesehen diese Person auch sein mag, wird er von gut gemeinten oder böswilligen Kritiken negativ beeinflusst, zu mindestens wird er umsonst gearbeitet haben. Eine solche Arbeit muss von 8 bis 10 Personen in gemeinsamer Verantwortung und in Verantwortung seines eigenen Bereiches für jeden, übernommen werden.

2. Eine solche Geschichtsschreibung wird nicht das Ergebnis eines Konsenses sein; das bedeutet, dass diese Arbeit nicht von einer paritätisch besetzten türkisch –armenischen Kommission gemacht wird. Der richtigste Weg ist, dass diese Arbeit von türkischen Historikern übernommen wird, denn jeder Ausländer, der sich an der Arbeit beteiligt, wird so oder so entweder als „Freund“ oder als „Feind“ angesehen.

3. Eine solche Arbeit muss gänzlich privaten Charakter haben. Es darf keine mittelbare oder unmittelbare staatliche bzw. offizielle Förderung stattfinden. Es ist sogar noch nicht mal notwendig, dafür einen Fonds zu finden. Akademische Arbeiten kommen ohne Fonds aus, die Urheberrechte der Verlage reichen so etwas zu finanzieren.

4. Diese Arbeit darf keine rechtliche Bedenken beinhalten, also weder eine Anklageschrift sein, noch ein Verteidigungsplädoyer. Der Zweck wird sein, die Realität so richtig wie möglich wiederzugeben und alle Probleme zur Diskussion zu überlassen. Erst so kann diese Arbeit seinen Zweck erfüllen. Ansonsten wird es nichts anderes als ein weiteres klagendes bzw. verteidigendes Buch, wie sie zu tausenden schon existieren.

5. Diese Arbeit hat nicht die Aufgabe die Weltöffentlichkeit zu beeinflussen oder gar aufzuklären. Sondern die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die türkische Gesellschaft ihrer Vergangenheit stellt. Die wahre Aufgabe ist es, zu erläutern, dass der richtige Weg nicht darin besteht, die dunklen Kapitel unserer Geschichte zu vergessen, sondern zu lernen, diese mit Gründen und Ergebnissen zu verstehen und so die Last der Vergangenheit wegwerfend, in die Zukunft zu schauen. Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, wird diese Arbeit seine Anerkennung in der Weltöffentlichkeit finden. Deshalb muss es in Türkisch verfasst und von einem privaten Verlag in der Türkei veröffentlicht werden. Wenn ausländische Verlage dieses Buch veröffentlichen wollen, gibt es den normalen Weg der Übertragung von Urheberrechten.

Eine solche Arbeit wird der rechtlichen Diskussion nicht schaden. Weil es eine private Arbeit sein wird, wird es die offizielle Meinung nicht berühren. Aber dennoch können offizielle Stellen diese Arbeit nutzen, was ihnen zu einer besseren Manövrierfähigkeit verhelfen wird. Und dies wird auch dazu führen, dass diese Informationen von der türkischen und ausländischen Öffentlichkeit ernst genommen werden.

Prof. Dr. S. Yerasimos hat diese Rede am 20.Mai 2002 im Rahmen des Programms der Akademischen Konferenzen der Wissenschaftlichen Akademien der Türkei abgehalten.
Übersetzung: Murat Çakır