Türken in Deutschland – Eine kritische Betrachtung

Murat Çakır

Türken in Deutschland – Die Almancilar: Türkei-Lobby, Bindeglied oder deutsche Mitbürger? Es würde sich sicherlich lohnen, die schönen Seiten einer durch Präsenz von ImmigrantInnen bereicherter Kulturgemeinschaft aufzuzählen. Doch die Realitäten sind viel zu bitter, um die Frage nur aus einer positiven Sicht zu betrachten.

Gerade in den letzten Jahren ist vermehrt zu beobachten, dass die türkeistämmigen ImmigrantInnen sich ihrem deutschen Umfeld entfremden, verstärkt Isolationstendenzen zeigen und sich in Parallelwelten zurückziehen. Insbesondere in den benachteiligten Stadtgebieten der Ballungszentren sind eigene Infrastrukturen gewachsen, die zu ökonomischen Ausgrenzungen und kultureller Abschottung führen. Die politischen und sozialen Entwicklungen in der Bundesrepublik scheinen die türkeistämmigen ImmigrantInnen immer weniger zu interessieren. Dem gegenüber wird ihr Alltag von den politischen Entwicklungen des Herkunftslandes Türkei wesentlich beeinflusst. Ethnische wie religiöse Polarisierungen werden in dem selben Maße erlebt wie in der Türkei. Obwohl die Vielfalt unserer modernen Mediengesellschaft ihnen zur Verfügung steht, betrachten sie das Weltgeschehen vorwiegend aus einer Türkeibrille. Das hat zur Folge, dass sich die Meinungsbildungsprozesse nur einseitig und sehr eingeengt entwickeln. Daher wird der Rassismus in Europa als reine „Türkenfeindlichkeit“ empfunden. Sachliche Kritik an der Politik der türkischen Entscheidungsträger wird als „ungerechte Verurteilung der Türkei“ und „eurozentristische Anmaßung“ angeprangert. Überall dort, wo türkeistämmige ImmigrantInnen leben ist diese Einstellung weit verbreitet.

In einem solchen Umfeld agieren desintegrativ wirkende türkische Organisationen und ihr wachsender Einfluss verstärken die Isolationstendenzen. Die Selbstisolation wiederum erweist sich als ein wesentlicher Grund für das Fehlen der notwendigen Sprachkompetenz – insbesondere bei den einzuschulenden Kindern. Dies ist dann der Beginn eines Teufelskreises: Einer Zukunft mit geringem Einkommen, geringen Aufstiegschancen, aber hohem Arbeitslosigkeits- und Kriminalitätsrisiko. Auf der anderen Seite belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass immer mehr türkeistämmige Jugendliche türkisch-nationalistische oder islamistisch-fundamentalistische Sichtweisen akzeptieren bzw. übernehmen. Dies und die Tatsache, dass das Bewusstsein und das Selbstverständnis von Teilen der türkeistämmigen Menschen zunehmend von Nationalismus oder religiösem Fundamentalismus geformt wird, beinhaltet für die Zukunft unserer Gesellschaft ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotential.

Doch wie konnte es zu dieser negativen Entwicklung kommen? Noch vor 15 Jahren waren wir der Meinung, dass die zweite und die dritte Generation eher deutsch sein würden als türkisch. Heute sehen wir, wie sehr wir uns geirrt haben. Die dritte Generation ist noch türkischer geworden als ihre Eltern, noch nationalistischer und noch traditionalistischer. Anders ist die Verjüngung der demokratiefeindlichen nationalistischen und fundamentalistischen Organisationen nicht zu erklären. Teilweise wird diese Negativentwicklung als ein Übergangsphänomen interpretiert und als eine Antwort der Türken auf die Abweisung durch die Mehrheitsgesellschaft bezeichnet. Nun, es ist zwar richtig, dass die Nichtintegration und fortwährende restriktive Ausländerpolitik – insbesondere der letzten Jahrzehnte unter Kohl – dafür mitverantwortlich sind. Es steht auch außer Frage, dass die türkeistämmigen Immigranten in einer Situation der fehlenden Integrationskonzepte, der Ausgrenzung und Ungleichbehandlung noch mehr in die Isolation gedrängt und dort noch mehr für demokratiefeindliche Wertvorstellungen empfänglich gemacht werden. Dass die deutsche Politik mit ihrer Erkenntnisverweigerung und ihrer Untätigkeit integrationspolitisch große Versäumnisse zu verantworten hat, ist hinlänglich bekannt. Aber die derzeitige Situation nur mit dem Fehlen einer modernen Einwanderungs- und Integrationspolitik erklären zu wollen, reicht nicht aus. Die Medaille hat auch eine andere Seite.

Ich bin jedenfalls der Auffassung, dass die von mir in Umrissen beschriebene Situation kein „Übergangsphänomen„ ist. Im Gegenteil: Sie ist dauerhaftes und langfristiges deutsches Problem geworden. Ein Problem, dass besonders beachtet und angegangen werden muss. Ich betone dies, weil diese Entwicklung allzu gerne ignoriert wird. Mehr noch: Wir machen es uns sehr einfach und nehmen diese Situation durch Tolerierung hin.

Irgendwie absurd ist es ja schon. Denn während wir die nationalistischen Einstellungen in der deutschen Mehrheitsbevölkerung als ein großes Problem bewerten und mit verschiedenen Maßnahmen – zu Recht – bekämpfen, tun wir so, als ob nationalistische Einstellungen bei den türkeistämmigen Jugendlichen für die Stabilisierung ihrer Identität durchaus notwendig wären. Ich denke, hier sollten wir uns nichts vormachen. Weder Nationalismus, noch andere undemokratische Norm- und Wertesysteme sind dazu geeignet, Identitäten zu stabilisieren oder in irgendeiner Form zu festigen. In einer demokratischen Gesellschaft sollten diese nicht hingenommen werden. Weder deutsche, noch türkische Nationalismen.

Nun zu der anderen Seite der Medaille. Maßgeblich mitverantwortlich für die erwähnten negativen Entwicklungen ist die Politik der türkischen Entscheidungsträger. Diesen Vorwurf müssen sich die türkischen Regierungen schon gefallen lassen, weil ihr bisheriges Handeln dafür genügend Anlass gibt. Es ist unbestritten, dass die türkeistämmigen Immigranten lange nur als Devisenbeschaffer betrachtet wurden. Die Lösung ihrer migrationsbezogenen Probleme hatte jedenfalls niemals Priorität.

Seit 1980 jedoch – also seit dem Beginn der berüchtigten „Befriedungsoperation„ der Türkei in Deutschland – ist eine Veränderung in der Immigrantenpolitik der Türkei zu verzeichnen. Die türkischen Entscheidungsträger scheinen erkannt zu haben, welche Potentiale bei den türkischen Staatsangehörigen in Europa liegen und welche Rolle sie spielen könnten.

Daher erwartet man – und das ist in zahlreichen Appellen verschiedener türkischer Stellen an ihre Staatsangehörigen zu hören – dass die türkischen Immigranten die Rolle einer Türkeilobby übernehmen sollten. Einer Lobby, die nicht nur für das Land, sondern auch und vor allem für die Politik der Entscheidungsträger in der Türkei werben soll. Seit Jahren wird dafür mit allen Mitteln geworben. Regierungshörige türkische Organisationen in der Bundesrepublik und die aggressiv-nationalistische Berichterstattung einiger türkischer Medien tragen das ihre dazu bei.

Wie systematisch hier vorgegangen wird, möchte ich anhand eines Beispieles darlegen. Vor einigen Jahren entnahm ich der türkischen Presse, dass in dem Verein „Türkische Gemeinde zu Berlin e.V.„ (nicht zu verwechseln mit der „Türkischen Gemeinde in Deutschland e.V.„) ein Streit entbrannt war. Es wurde über die Gültigkeit der Vorstandswahlen gestritten. Nach verschiedenen Berichten über die Auseinandersetzung las ich dann in einer Drei-Zeilen-Meldung, dass sich der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei eingeschaltete habe und hierdurch der Postenstreit gelöst worden sei. Nun, ein Postenstreit in einem Verein ist kein spektakulärer Vorfall. Auch hier in der Bundesrepublik, wo zigtausend Vereine existieren, ist das keine Seltenheit. Seltenheitswert aber hat das Intervenieren des Generalsekretärs des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei. Stellen Sie sich das doch mal vor: Das höchste Entscheidungsorgan eines Staates fühlt sich genötigt, mit der Lösung einer alltäglichen Vereinssache in einem westeuropäischen Staat einen seiner ranghöchsten Offiziere zu beauftragen. Der fliegt dann von Ankara nach Berlin und beendet den lächerlichen Postenstreit in einem kleinen Verein. Da macht der Verein weiter, als ob nichts Ungewöhnliches passiert wäre und kassiert als NGO weiter Zuwendungen vom Berliner Senat.

Die erste Frage ist, warum und zur Wahrung welcher Interessen mischt sich der Nationale Sicherheitsrat der Türkei in die Angelegenheiten eines Vereins in Berlin ein? Die andere Frage ist: Warum schauen Bundesbehörden dieser Einmischung eines fremden Staates auf deutschem Boden tatenlos zu? Was in aller Welt spielt sich hier ab? Die Beantwortung dieser Fragen würde zur Auflösung eines komplizierten Puzzles viel beitragen. Wie dem auch sei. Allein dieses Beispiel zeigt die Komplexität und die Überschneidung verschiedener Interessen auf.

Die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden türkischen Staatsangehörigen und türkeistämmigen Deutschen ist nicht zu vernachlässigen. Wir tun uns in der Tat keinen Gefallen, wenn wir weiterhin die fortschreitende Desintegration der größten Zuwanderergruppe in Deutschland ignorieren. Dieser Negativentwicklung muss durch ein Umdenken und einen dringend notwendigen Politikwechsel entgegengewirkt werden. Unsere Demokratie muss sich anstrengen und es – um der Zukunft unserer gemeinsamen Gesellschaft willen – schaffen, die Zuwanderer, allen voran die türkeistämmigen Immigranten, für unsere Gesellschaft und für unsere Demokratie zu gewinnen. Nötig sind daher ernsthafte Bemühungen für die Integration der Zuwanderer und deren Nachkommen. Die Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung ist eine gute Basis dafür und mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurden auch erste richtige Schritte unternommen. Dem sollten jetzt die nächsten Schritte folgen. Was unser Land benötigt, ist eine moderne Einwanderungs- und Eingliederungspolitik. Hierzu gibt es keine Alternative.

Notwendig ist es aber auch, die Frage zu beantworten, wie wir in der Bundesrepublik mit desintegrativ wirkenden Organisationen und Bestrebungen umgehen sollten. Können wir es beispielsweise noch hinnehmen, dass Organisationen mit nationalistischen oder islamistischen Grundhaltungen abgeschirmt von der Öffentlichkeit hier frei agieren können? Und können wir es weiterhin hinnehmen, dass ein Drittstaat für die Durchsetzung seiner eigenen Interessen innergesellschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik ohne weiteres beeinflussen kann?

Meiner Ansicht nach liegt es in der Verantwortung der Bundesregierung, aber auch der gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, um sich, bei aller Freundschaft mit der Türkei, kritisch damit auseinander zusetzen. Und es geht auch nicht darum, ob die Türken ihre Identität verlieren oder beibehalten sollen. Ebenso wenig geht es um die Frage, ob die Entscheidungsträger in der Türkei staatsbürgerliche Interessen haben dürfen. Es geht um die Frage, ob die türkeistämmigen Immigranten eine regierungsnahe Türkeilobby werden, die sie durch Desintegration ihrer Lebenswelt entfremdet, oder ob sie als Bindeglied zwischen zwei Kulturen und zum untrennbaren Teil unserer Gesellschaft werden. Ich jedenfalls bin für das letztere. Dies kann aber nur gelingen, wenn wir uns darauf verständigen, dass das Maß aller Dinge unsere Verfassung sein muss. Und dort ist kein Platz für Nationalismen oder sonstige undemokratische Einstellungen.

Daher müssen es die türkeistämmigen Immigranten hinnehmen, dass kritische Nachfragen zu ihrem Selbstverständnis gestellt werden. Und ich denke, dass sie sich selbst kritisch damit auseinandersetzen müssen. Dafür aber muss unsere demokratische Gesellschaft die Rahmenbedingungen schaffen. Deshalb halte ich beispielsweise für notwendig, dass dem Monopol der türkischen Medien in der Bundesrepublik mehrere Medienalternativen entgegengestellt werden. Die in der Regel einseitige Informations- und Nachrichtenpolitik der türkischen Medien muss durch professionellen und glaubwürdigen Journalismus sowie durch eine demokratisch-pluralistische Informationspolitik ergänzt werden. Die wenigen vorhandenen türkischsprachigen Sendungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und die Experimentierfreudigkeit einiger deutscher Printmedien reichen dafür bei weitem nicht aus. Mit der Beibehaltung des Status quo in der bundesdeutschen Medienpolitik kann der notwendige Informations- und Meinungsaustausch zwischen Einheimischen und Zugewanderten nicht gelingen. Im Gegenteil, der Status quo wird die Isolationstendenzen insbesondere der türkeistämmigen Immigranten weiter verstärken.

Kurzum, Gesellschaft und Politik, wir alle müssen uns für das friedliche Zusammenleben in diesem Land einsetzen. Sicherlich werden mit einem Politikwechsel und den angesprochenen Maßnahmen, sofern sie auch umgesetzt werden, nicht alle Probleme gelöst werden können. Nationalisten und religiöse Eiferer wird es in jeder Gesellschaft geben. Demokratie schützt eben vor Dummheit nicht. Aber eine demokratische Gesellschaft, welche die Integration der in ihr lebenden Zuwanderergruppen vorantreibt, ihnen Wege und Möglichkeiten eröffnet, die demokratischen Werte aufzunehmen, wird in der Lage sein, jegliche Nationalismen wirksam zu bekämpfen, um eine friedliche gemeinsame Zukunft bestmöglich zu gestalten.

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