WELCHES DEUTSCHLAND WOLLEN WIR

Einleitung

Seit ihrer Gründung hat die Föderation der Immigrant/innenvereine aus der Türkei (GDF) e.V. immer zu den aktuellen Fragen der Bundesrepublik Stellung genommen und war dabei stets bemüht, als Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft, ihren Beitrag für die weitere Demokratisierung der Bundesrepublik und zur Lösung der aus der Immigration entstandener Probleme zu leisten. Diesmal jedoch stellt die GDF selbst einen Fragekatalog auf, in der Hoffnung, gemeinsam mit der Mehrheitsgesellschaft und den ImmigrantInnen die Antworten dafür zu finden.

In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen und den Diskussionen um Rechtsradikalismus sowie Rassismus, sind wir der Meinung, dass nicht allein die Fragen zur Einwanderung gestellt werden sollten, sondern auch die allgemeinen Fragen zur Zukunft unseres gemeinsamen Landes.

Nach den Bundestagswahlen von 1998 keimte bei den ImmigrantInnen die Hoffnung auf, dass die neue Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen zur Auflösung des Reformstaus angehen würde. Obwohl die rot – grüne Bundesregierung in den Bereichen

- Staatsangehörigkeit

- »Greencard«, Einwanderungsgesetzgebung

- Verbot von rechtsradikalen Organisationen und Parteien

die ersten Schritte unternommen hat, ist die Realität des „Einwanderungslandes Deutschland“ noch stärker in den Vordergrund gerückt. Unsere langjährige These, dass »die Fragen der Einwanderung inzwischen Kernprobleme unserer Gesellschaft geworden sind«, findet inzwischen – zwar mit unterschiedlichen Lösungsansätzen, aber immerhin – auf breiter politischer Basis Zustimmung.

Dennoch werden die Fragen der Einwanderung stets als „Sonderfall“ diskutiert. Des öfteren wird vergessen – auch Seitens der Organisationen der ImmigrantInnen -, dass von der Rentendiskussion zur Steueränderungen, von der Gesundheitsreform bis zu anderen innenpolitischen Veränderungen (wie z.B. die Verschärfung des Strafrechts u.ä.) alle politischen Entscheidungen auch für die ImmigrantInnen von fulminanter Bedeutung sind. Eines wird jedoch nie vergessen: Die Instrumentalisierung der ImmigrantInnen.

Die rot – grüne Bundesregierung hat lediglich nur kosmetische Operationen an denjenigen Problemen vorgenommen, die eigentlich ein Land wie die Bundesrepublik schon vor zwei Jahrzehnten gelöst hätte müssen. Gesellschaftlich ist es eine Tatsache, dass Immigration und durch sie verursachte Probleme unzertrennbare Elemente der allgemeinen bundesrepublikanischen Probleme geworden sind. Die Fragen der Immigration gesondert zu behandeln wird zur Folge haben, dass die wahren Ursachen nicht erkannt und Fehlschlüsse gezogen, somit keine grundlegenden Lösungen gefunden werden können.

Die GDF, die von der Feststellung ausgeht, dass die Immigration unseres Zeitalters einen neuen Charakter hat, vertritt die These, dass die Fragen der Immigration von den allgemeinen Entwicklungen auf der Welt und den allgemeinen Problemen der Bundesrepublik nicht unabhängig angegangen werden können.

In einer Zeit des entfesselten Kapitalismus, der Globalisierung des Kapitals und der Information sieht die GDF, bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung und der Entwicklungsprozesse, dass die gesellschaftliche Desintegration sich zu einem der wichtigsten Hindernisse für die Integration entwickelt hat.

Die Tatsachen,

· dass sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger trotz der Rekordgewinne der Unternehmen und des angehäuften Reichtums in der Bundesrepublik sich stetig erhöht,

· dass die soziale Ungerechtigkeit sich vertieft und die Schere zwischen den Einkommen der Reichen und der Armen weiter auseinander klafft,

· dass die Teilhabe der abhängig Arbeitenden und der Mittelschicht, die insgesamt die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, an den finanziellen und kulturellen Gütern mehr und mehr behindert wird,

· dass, trotz der Vereinigung, die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschen sich vergrößert,

· dass sich Deutsche und ImmigrantInnen noch mehr verfremden,

· dass die bewährte Sozialstaatlichkeit noch mehr dem Rotstift geopfert wird,

· dass die ethnischen Minderheiten noch mehr diskriminiert und ausgegrenzt werden,

· dass die sozialen Beziehungen sich stetig auflösen,

· dass die Werte und Normen, welche die verbindenden Elemente der Gesellschaft sind und von der Mehrheitsgesellschaft als allgemeinen Konsens akzeptiert waren, langsam aber sicher ihre Gültigkeit verlieren,

· dass die Gültigkeit der kulturellen, religiösen und familiären Maßstäbe noch mehr hinterfragt werden und dass immer mehr Menschen in Zukunftsängste fallen

sind Belege dafür, dass die gesellschaftliche Desintegration die nahe Zukunft unseres Landes weiterhin dominieren wird.

Aus diesen Gründen wird das Hauptziel der GDF in der Zukunft:

»die Gründung von Plattformen, in denen Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt und ihre Zukunft in der Bundesrepublik sehen, gemeinsam der Frage „WELCHES DEUTSCHLAND WOLLEN WIR?“ nachgehen sollen und

ihren Beitrag für die, von ethnischen Merkmalen unabhängigen und gleichberechtigt gemeinsamen Findung und der Strukturierung des Weges von einem Deutschland der Deutschen, zu einem modernen Deutschland aller „Deutschländer“, welches die Notwendigkeiten der universellen Werten bewerkstelligen kann, zu leisten«

sein.

WAS IST „NEU“ IN DER BUNDESREPUBLIK oder WAS MÜSSTE HINTERFRAGT WERDEN?

Gesellschaftliche Strukturen

Ist es eine Realität, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik nicht nur aus Deutschen besteht, rund 10 % ihrer Bevölkerung unterschiedliche ethnische Hintergründe haben und diese Masse, welches derzeit keinen deutschen Pass besitzt, sich für immer hier aufhalten wird?

Können die Aussiedlerinnen und Aussiedler, die grundrechtlich als Deutsche gelten, aber unterschiedliche Sozialisationen als die Bundesdeutschen haben, zu dieser Masse hinzugerechnet werden?

Ist es eine demographische Realität, dass während die ImmigrantInnen eine Dynamik aufweisen, die deutsche Mehrheitsgesellschaft immer älter wird?

Ist es richtig, dass – auch wenn es nur unter sozialversicherungstechnischen Gesichtspunkten betrachtet wird – die Bundesrepublik auf junge und „billigere“ Arbeitskräfte, welche nur durch eine Einwanderung herbeigeholt werden können, angewiesen ist?

Wir diese demographische Entwicklung Allgemein anerkannt und findet sie Entsprechung in der Politik und gesellschaftlichen Organisierung der Bundesrepublik?

Ist, entgegen der Notwenigkeit neue Arbeitskräfte herzuholen, es wirtschaftlich und politisch möglich, die sozialen Versicherungssysteme human und sozial gerecht zu gestalten?

Kulturelle Strukturen

Ist die These richtig, dass in der Bundesrepublik unterschiedliche Kulturen und Sprachen nebeneinander existieren und dass diese Entwicklung nicht umgekehrt werden kann?

Ist es möglich, dass durch die Erkenntnisverweigerung dieser Tatsache durch offizielle Staatspolitik der Bundesrepublik, kulturelle Konflikte entstehen werden?

Was ist das Haupthindernis vor der gesellschaftlichen Integration?

Führt die rechtlich – politische Anerkennung des Vorhandenseins von unterschiedlichen Kulturen und Sprachen zu einem gesellschaftlichen Chaos oder zur Integration?

Was bedeutet die Anerkennung von unterschiedlichen Kulturen und Sprachen? Wie ist dessen gesellschaftliche und politische Umsetzung zu verstehen?

Ist eine einseitige Integration überhaupt möglich?

Welche Beziehung haben Integration und Demokratie zu einander?

Politische Strukturen

Kann in einem Land, in dem 10% der Bevölkerung das Wahlrecht verwehrt wird, von einer Demokratie gesprochen werden?

Reicht das Vorhandensein einiger weniger eingebürgerten Politiker/Politikerinnen aus, um die Situation der überwiegenden Mehrheit der ImmigrantInnen zu verbessern?

Ist es richtig, dass während auf der einen Seite vom Staatswegen das Wahlrecht verwehrt wird, einige deutsche politische Kreise an der Stellvertreterpolitik für ImmigrantInnen festhalten?

Kann diese Haltung von „ausländerfreundlichen“ Parteien oder gesellschaftlichen Organisationen auch als das Verwehren von politischen Rechten für ImmigrantInnen verstanden werden.

Welchen Grund kann es haben, dass, während mit rechtspopulistischen bzw. rassistischen Argumenten Politik gemacht wird, den ImmigrantInnen die Möglichkeit sich politisch zu wehren nicht gestattet wird? Haben dadurch nur neonazistische und rechtsradikale Parteien einen Vorteil? Welche Kräfte könnten daran Interesse haben? Könnte es sein, dass auch etablierte Parteien wie die CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen von den ausländerfeindlichen Stimmungen profitieren?

Könnte es sein, dass Regierende stets eine Masse brauchen, die still ist und sich nicht wehren kann? Welchen Zweck könnte eine solche Tatsache im gesellschaftlichen und politischen Leben haben?

Sind die ImmigrantInnen, die seit Jahrzehnten hier leben, politisch mündig genug, um Lösungsvorschläge für die Probleme des Landes zu entwickeln? Sind sie in der Lage, sich selbst zu vertreten und ihre Probleme zu definieren? Oder brauchen sie weitere 45 Jahre?

Seit der Gründung der Bundesrepublik sind 51 Jahre vergangen. 45 Jahre davon waren immer ImmigrantInnen dabei, also 9/10 der bundesrepublikanischen Geschichte haben sie mitgestaltet. Könnte der Staat oder die Gesellschaft schuld daran sein, dass ImmigrantInnen immer noch nicht als politisch mündige BürgerInnen anerkannt sind?

Könnte in der Bundesrepublik von einer vollkommenen Demokratie gesprochen werden, solange denjenigen Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik sehen, das aktive und passive Wahlrecht nicht gegeben wird?

Sind diejenigen, die nichts gegen die unmündige Haltung von 10% der Bevölkerung unternehmen oder dies nur hinnehmen, nicht genauso schuldig, wie diejenigen, die das Wahlrecht politisch verwehren?

Setzen sich Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und andere gesellschaftliche Organisationen genügend für die Gleichberechtigung ein?

Kommen die Intellektuellen dieses Landes ihrer Verantwortung nach?

Kann die Nichtanerkennung und das Verwehren von politischen Rechten auch als „Verletzung der Menschenrechte“ definiert werden?

Rechtliche Strukturen

Werden den ImmigrantInnen gleiche Rechte aufgrund rechtlicher Hindernisse und/oder aufgrund politischer Gründe verwehrt?

Gilt das Grundgesetz im gleichen Umfang auch für ImmigrantInnen?

Werden Gesetze für das Wohl der Menschen oder zur Definition von Ge- und Verboten erlassen? Sind Gesetze etwas Übermenschliches? Können sie geändert werden? Ist jedes Gesetz auch gerecht?

Was ist der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit?

Ist die gesetzliche – auch grundrechtliche – Unterscheidung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen nicht die Hauptursache für Diskriminierungen?

Ist es notwendig, dass alle diskriminierenden Gesetze aufgehoben und ein Nichtdiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz eingeführt wird? Oder ist die Zeit dafür noch nicht reif?

Ist in der Bundesrepublik ein „Ausländergesetz“, der die Grenzen der Rechte für ImmigrantInnen definiert, noch notwendig/zeitgemäß?

Kann in einem Land, in der die Mehrheitsgesellschaft und die ImmigrantInnen mit unterschiedlichen Gesetzeswerken behandelt werden, überhaupt Integration stattfinden?

Ist ein „Einwanderungsgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“, der die zukünftige Einwanderung regeln soll, überhaupt notwendig? Oder sollten nur Gesetze „nach Bedarf“, wie ›Greencard‹, ›Rotationsabkommen‹, ›Saisonarbeiter‹ u.ä. erlassen werden?

Sollte der Art. 16 GG in ihren Ursprungsform wieder zurück gesetzt werden?

Ist es richtig, dass rassistische oder neonazistische Parteien oder Organisationen wegen „Ausländerfeindlichkeit“ verboten werden und wird nicht dadurch die „Meinungsfreiheit“ verletzt? Solche Organisationen werden von den Verfassungsschutzämtern überwacht, die Sicherheitsbehörden und Gerichte lassen Gewalttäter, deren Personalien aufgenommen werden, wieder auf dem freien Fuß. Könnte deren nächste Verhaftung oder Bestrafung durch Verbote gefährdet werden?

Was bedeutet Rassismus? Wer wird davon bedroht? Welche Maßnahmen müssen gegen den Rassismus unternommen werden? Welche Art von Rassismus wäre nützlich?

Bundespräsident Rau: „...aber jeder muss unsere Kultur und Sprache lernen und sich dem anpassen.“, Bundeskanzler Schröder: „Kriminelle Ausländer Raus, aber schnell!“, Bundesinnenminister Schily: „Das Verwirken des Gastrechts“, Rüttgers: „Kinder statt Inder“, DVU/REP: „Ausländer Raus“ welche dieser Aussagen sind rassistisch?

Was ist der Unterschied zwischen Sozialhilfebedürftigkeit und „potentiellen Kriminellen“?

Kann der deutsche Pass vor ausländerfeindlichen bzw. rassistischen Gewalttaten schützen?

Was ist die Beziehung zwischen Bürgerrechten und Einbürgerung und wo liegen die Widersprüche?

Wirtschaftliche Aspekte

Während die ständige Massenarbeitslosigkeit sich bei der (offiziellen) 4 – Mio. – Marke einpendelt, erleben die bundesdeutschen Kapitalgruppen eine goldene Zeit der Rentabilität. Wie kann es sein, dass bei rekordverdächtigen Unternehmensgewinnen die Zahl der Arbeitslosen steigt?

Die Kapitalkonzentration findet in den ergiebigsten Bereichen der neuen Ökonomie und der Telekommunikation statt. Wie sollte die Greencard – Maßnahme, mit den für die qualifizierten Arbeitsplätze ImmigrantInnen angeworben werden, bewertet werden?

Ist die Haltung der Gewerkschaften gegen den Greencard nachvollziehbar, obwohl sogar Parteien die davon sprechen, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gäbe, diese Maßnahme unterstützen?

Soziale Gerechtigkeit

Gibt es in der Bundesrepublik eine Ungerechtigkeit bei der Einkommensverteilung?

Haben, neben den 4 Millionen Arbeitslosen, die 6 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, zu einer „neuen Armut“ in der Bundesrepublik geführt?

Ist es richtig, dass, obwohl die Zahl der Sozialhilfeempfänger sich erhöht, die Bundesregierungen an Sparmaßnahmen bei Sozialleistungen festhalten?

Kann eine Politik, die Sozialkürzungen, Kürzungen bei den Lohnnebenkosten, Aufhebung der Arbeitslosenhilfe und Verringerung der Unternehmenssteuern verfolgt, wirksam die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen?

Wird die Aufhebung der Arbeitslosenhilfe, zu einer Kostenexplosion bei den, durch die Steuer finanzierten Sozialhilfeausgaben verursachen?

Die Bundesregierung will sowohl von den Unternehmern, als auch von den Arbeitnehmern in gleicher Relation Steuern erheben. Kann mit einer solchen Gleichbehandlung die soziale Gerechtigkeit gewährleistet werden?

In welchen Zusammenhang stehen die Kürzungen bei den Renten, Ausbildungshilfen und Bildung mit den Verteidigungsausgaben?

Die rot – grüne Bundesregierung möchte mit der Ökosteuer die Umwelt entlasten. Sind die Reaktionen dagegen gerechtfertigt? Welche Vorteile kann verbilligtes Benzin für die Umwelt bringen?

Die GDF ist der Meinung, dass die sozialen und ökonomischen Errungenschaften, welche die in den Zeiten starker Gewerkschaften erkämpft wurden sind, nach und nach abgebaut werden und deshalb die soziale Ungerechtigkeit erhöht wird. Ist diese Feststellung richtig?

In welcher Beziehung stehen soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Integration? Wie wirkt diese Beziehung den ImmigrantInnen und ihren Einsatz für gleiche Rechte? Ist jeder Immigrant/jede Immigrantin von den sozialen und ökonomischen Ungleichheiten in gleichem Maße betroffen? Können ImmigrantInnen in einem sozialen Kategorie zusammen gefasst werden?

Sollte die GDF jede Forderung unterstützen, nur weil sie von ImmigrantInnen aufgestellt wird?

WELCHES DEUTSCHLAND?

Welches Deutschland wir haben wollen, wird sich bei der Beantwortung obiger Fragen darstellen. Wenn wir es schaffen, einen guten Gleichgewicht zwischen unserer Utopien und unserem Realitätssinn herzustellen, werden wir mit klaren Forderungen und unseren starken Argumentationen in die Entwicklung einwirken können. Die GDF stand und steht für eine demokratischere, gleichberechtigte, humane, sozialstaatliche und von jeglichen Diskriminierungen befreite Zukunft. Die GDF hat seit ihrem Bestehen immer ihr Bestes gegeben, um ihren Beitrag zu leisten. Dies wird sie auch in der Zukunft weiterhin tun.

Başa dön
Nach oben