Multikulti ist nur eine Illusion

Deutschland wird zum Einwanderungsland. Das Grundgesetz taugt nicht als Wegweiser

Von Ulrich K. Preuß

Nach dem Kurswechsel von CDU und CSU ist Deutschland auf dem besten Wege, auch ganz offiziell ein Einwanderungsland zu werden. Migrationspolitik wird von nun an fester Bestandteil der deutschen Innenpolitik sein. Die eigentliche Herausforderung dieser Entwicklung aber ist diese: Wir müssen die durch Zuwanderung bereits entstandene, gewissermaßen bloß sinnlich-physische Anwesenheit der Fremden in den Tatbestand ihrer Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft verwandeln. Das ist der Kern des nun in den Vordergrund der Diskussion rückenden Integrationsproblems.

Bewusst spreche ich von Fremden, knüpfe damit aber nicht an den allmählich überkommenen staats- und völkerrechtlichen Begriff des Fremden an. Dieser stammt noch aus der Blütezeit des Ideals einer homogenen Staatlichkeit. Damals wechselten Angehörige anderer Staaten das Hoheitsgebiet stets bloß in kleiner Zahl und meist nur für kurze Zeit. In dieser Ära war der Fremde zuallererst der Angehörige eines anderen Staates. Mit seinem Staat - so sagte es die bis weit ins 20. Jahrhundert vorherrschende Doktrin - verband ihn eine ausschließliche und existenzielle Beziehung. Die Fremdheit im Gastland war gewissermaßen die Kehrseite der Zugehörigkeit zu seinem Heimatstaat. Wir können dies als das staatsrechtliche Modell des Fremden bezeichnen.

In unserer Zeit offener Staatlichkeit, grenzüberschreitender Mobilität und massenhafter Migration von Arbeitskräften ist diese ausschließliche und existenzielle Qualität der Staatsangehörigkeit weniger wichtig. Heute verkörpert die Staatsangehörigkeit mehr und mehr bloß noch die formalrechtliche Zuordnung des Individuums zu einem Gemeinwesen. Eine solche Staatsangehörigkeit sagt wenig über die Identität eines Menschen aus. Wir sehen im Fremden daher nicht mehr in erster Linie den Inhaber eines ausländischen Passes - den er als "deutscher Türke", "deutscher Russe" oder "deutscher Palästinenser" häufig auch gar nicht mehr besitzt -, sondern den Repräsentanten einer hier lebenden ethnischen Minderheit. Mit anderen Worten, der Begriff des Fremden hat sich aus einer staatsrechtlichen Kategorie in eine soziokulturelle verwandelt.

Die Tatsache, dass in Deutschland inzwischen viele ethnische Minderheiten leben, hat klare Konsequenzen: Das (sowieso längst überkommene) Ideal einer homogenen Gesellschaft ist ein für allemal passé. Es kann und darf auch nicht mehr als normativer Maßstab dienen. Genauer gesagt: Wenn wir uns offiziell als Einwanderungsgesellschaft definieren und Fremde als Mitbürger aufnehmen, müssen wir uns gemeinsam eine neue Normalität schaffen. Das kann nur gelingen, wenn wir uns gedanklich selbst einmal in die Rolle von Fremden begeben, die gemeinsam mit vielen anderen eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit formen sollen.

Bisher war es doch so: Die "Normalisierung" des Fremden erfolgte durch seine Einbürgerung; er gab also idealiter die bisherige Staatsbürgerschaft auf, erwarb - selbstverständlich nur nach Erfüllung einiger mehr oder weniger anspruchsvoller Bedingungen - die neue und wurde Bürger. Auch heute noch glauben viele Liberale und Linke, auf diese Weise die Probleme der Zuwanderung und Integration bewältigen zu können.

Aber so wie sich jetzt viele Konservative von ihrer Illusion verabschiedet haben, Deutschland sei kein Einwanderungsland - so müssen nun auch Linke und Liberale eine alte Lieblingsidee aufgeben: Dass die Einbürgerung, also die Aufnahme der Zugewanderten in die Rechtsgemeinschaft der Staatsbürger, bereits die Lösung aller Integrationsprobleme sei. Es gibt einen ewigen Streit, ob Ausländer erst am Ende eines langen und gelungenen Integrations, möglicherweise sogar erst nach Abschluss eines Assimilationsprozesses eingebürgert werden sollen. Oder ob nicht umgekehrt der Erwerb der Staatsbürgerschaft am Anfang stehen muss, weil er Voraussetzung jeglicher Integration ist. Linke und Liberale haben stets für das zweite Modell gefochten.

Ihre Position steht in der ehrenvollen Tradition der universalistischen Ideale der Französischen Revolution. Danach enthielt jede Einbürgerung das Versprechen, im Neuankömmling nicht den Angehörigen eines fremden Volkes, sondern vor allem den neuen Mitbürger zu sehen, der sich in seinem Menschentum nicht von den Einheimischen unterscheidet und deshalb ein Recht darauf hat, als Gleicher geachtet zu werden. Als Gegenleistung verlangte die Republik, dass sich die Neuankömmlinge an die säkular und menschenrechtlich geprägte politische Kultur Frankreichs anpassten. Alle besonderen Merkmale wie Herkunft, Religion, Hautfarbe, Sprache, Sitten und Gebräuche, die in dem abstrakten Menschen erst das konkrete Individuum erkennen lassen, mussten aus der öffentlichen Sphäre ferngehalten werden und wurden in den privaten Bereich verbannt.

Dieser menschenrechtliche Universalismus hat jedoch seinen Preis. Denn gerade Herkunft, Religion, Ethnizität, Hautfarbe und Sprache sind für viele Menschen, zumal in der Fremde, Quelle ihres Selbstgefühls, ihrer Selbstachtung, ihrer Identität, ja auch ihres Stolzes. Gerade Angehörige von Minderheiten wollen durch das demonstrative Bekenntnis zu ihrer Herkunft und das Insistieren auf ihrer ethnisch-kulturellen Besonderheit eines deutlich machen: Die ihnen abverlangte Anpassung an die Sitten, Gebräuche und normativen Maßstäbe der Mehrheitsbevölkerung würde ihnen das Eigene nehmen - ohne dass sie jedoch aufhörten, sich auch weiterhin von der Mehrheit zu unterscheiden, sei es durch ihre Sprache, ihre Hautfarbe oder den Namen. Das Beharren auf ihrer Besonderheit, sagen sie, solle der Mehrheitsgesellschaft mitteilen, dass sie in einer ihnen fremden, häufig feindlich gesinnten Umwelt ihre Identität wahren wollen. Gerade bei jungen Einwanderern führt das zu ethnischer Abkapselung, ja oft sogar zu einer bedingungslosen und aggressiven Identifikation mit einem abstrakten ethnischen Subjekt. Die traurige Folge: Der befreiende Impuls, der in der Entdeckung der eigenen ethnischen Besonderheit liegen kann, wird damit wieder zerstört.

Eine Einwanderungspolitik, die auf menschenrechtlich-universalistischen Prinzipien ruht, ist zwiespältig. Denn wer Einwanderern Einlass gewährt, ihnen aber zugleich die öffentliche Neutralisierung ihrer Herkunft und Kultur abverlangt, mutet ihnen zu, die eigene Identität zu verleugnen. Bekanntlich war dies über Jahrzehnte Kern des französischen Einwanderungskonzepts. Vertreter eines rigiden laizistischen Republikanismus halten auch heute noch daran fest.

In Deutschland hat ein solches Modell allerdings keine großen Chancen. Denn der hier traditionell viel stärkere territoriale, religiöse, kulturelle und politische Partikularismus hat ein hohes Maß an Offenheit gegenüber kultureller, insbesondere regionaler und lokaler Vielfalt hervorgebracht. Der Kern ist die vom Grundgesetz gewährleistete Religions- und Gewissensfreiheit. Ihr klassisches und auch in unseren Tagen wieder hochaktuelles Thema (siehe etwa die Kopftuchfrage oder die Befreiung vom Sportunterricht): die Spannung zwischen dem Grundsatz staatsbürgerlicher Pflichtengleichheit und dem individuellen Anspruch auf Pflichtenbefreiung aus religiösen Gründen. Die Gerichte haben diese Fälle bemerkenswert grundrechtsfreundlich, also zugunsten der "Abweichler" entschieden. Mit der einzigen Ausnahme der Steuerpflicht kann danach von der Erfüllung staatlicher Pflichten - angefangen bei der Wehrpflicht über die Impf-, Schul- und Hilfeleistungs- bis zur Schwurpflicht - entbunden werden, wer glaubhaft macht, dass er diesen Pflichten nur unter Verletzung für ihn verbindlicher Religions- und Gewissensgründe nachkommen könnte.

Solche Konflikte haben wir hierzulande bislang ohne Erschütterungen für das demokratische Gleichheitspathos bewältigt, zumal sie - mit Ausnahme der Kriegsdienstverweigerer - auch stets nur Mitglieder kleiner religiöser Gemeinschaften betrafen. Der verfassungsrechtliche Kern dieser Konflikte lautete jedes Mal: Wie viel Pflichtenbefreiung kann sich der egalitäre Verfassungsstaat leisten? Er konnte umso großzügiger sein, je kleiner die betroffenen Gemeinschaften waren und je marginaler damit die Bedeutung der Ausnahmen für die Normen der Mehrheitsgesellschaft. Jetzt aber will sich Deutschland als ein Einwanderungsland definieren, und Einwanderer in großer Zahl werfen neue Fragen auf. Da geht es nicht mehr, zumindest nicht mehr primär, um die Anerkennung der Eigenart und des Eigensinns einer randständigen Lebensweise durch Befreiung von allgemeinen Pflichten. Eine solche Befreiung bedeutet ja immer auch, was in der Debatte oft vergessen wird: die Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft. Die Aufgabe einer Einwanderungsgesellschaft besteht vielmehr in der Anerkennung kultureller Eigenheiten der zugewanderten Minderheiten. Und zwar mit dem Ziel, diese zu mitkonstituierenden Trägern der Gesellschaft zu machen.

Für ein solches Gemeinwesen ist das Konzept der stets als Ausnahme gedachten individuellen Pflichtenbefreiung unangemessen. Zugegeben: Dieses alte Konzept mag noch leidlich für die Befreiung eines muslimischen Mädchens vom koedukativen Sportunterricht funktionieren, vielleicht auch für die ausnahmsweise Befreiung vom generellen Verbot des Schächtens. Das Konzept mag für eine begrenzte Zeit sogar noch solche Massentatbestände wie Ladenschlusszeiten, Bekleidungsnormen und Speisevorschriften in staatlichen Institutionen, Feiertagsregelungen oder Bauvorschriften für nichtchristliche religiöse Bauwerke bewältigen. Doch eines ist gewiss: Der Integration von Einwanderern in die deutsche Gesellschaft dienen solche Ausnahmeregelungen nicht. Sie sind auch nicht für eine Einwanderungsgesellschaft gedacht. Hier stößt ein auf individuelle Ausnahmen gerichtetes Konzept nicht nur an seine inneren Grenzen, sondern es verstärkt und zementiert die Außenseiterrolle von Immigranten.

Da wir uns nun als eine Einwanderungsgesellschaft begreifen müssen, heißt das: Wir dürfen die Zugewanderten nicht als unvollkommene Deutsche betrachten, die für eine gewisse Zeit, zumindest in der ersten Generation, am Rande der Gesellschaft leben werden. Genau das aber würde eine Politik der formalen Gleichheit, der strikten kulturellen Neutralität gegenüber allen Individuen und ihren kulturellen Bindungen bedeuten. Wir sollten deshalb besser einen anderen Weg beschreiten: den Weg des kanadischen Philosophen Charles Taylor und seiner "Politik der Anerkennung". Sie schätzt den Eigenwert kultureller Differenzen und schützt die darauf gestützte Behauptung von Identität - einer Identität, die auch von Gruppen geprägt wird. Doch verlangt sie deshalb weder eine Garantie von Gruppenrechten nach dem Vorbild des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes noch ein kulturrelativistisches Bekenntnis zur multikulturellen Gesellschaft.

Versteht man unter Multikulturalismus das Nebeneinander der verschiedenen soziokulturellen Gruppen, die teils unterschiedliche, teils gegensätzliche Werte und Normen vertreten und zugleich auf ihre gleichberechtigte öffentliche Repräsentation in den Institutionen der Gesellschaft pochen - dann kann dieser Multikulturalismus nicht das deutsche Konzept für die Einwanderergesellschaft sein. Er würde uns zur Wertblindheit verurteilen. Der liberale, demokratische, soziale und föderale Verfassungsstaat des Grundgesetzes ist nicht wertneutral und beruht auch nicht auf wertneutralen Grundlagen. Er anerkennt die kulturelle Pluralität der Gesellschaft, soweit dies die Achtung der Würde und der Autonomie der unter dem Grundgesetz lebenden Menschen verlangt. Nicht mehr und nicht weniger. Weil der archimedische Punkt unserer Rechtsordnung die Anerkennung und der Schutz der Menschenwürde ist, schließt dies bestimmte Gemeinschaftswerte als konstituierende Elemente der politischen Ordnung schlechthin aus. Sollte also, um einen eindeutigen Fall zu zitieren, eine Minderheit die auf ihre kulturelle Tradition gestützte Praxis der Klitorisbeschneidung betreiben, so wäre hierfür nicht nur die rechtliche Anerkennung, sondern auch die bloße Duldung zu versagen.

Es ist schwer, einen sicheren Weg zu finden zwischen der Scylla eines auf kulturelle Assimilation getrimmten Einwanderungskonzeptes und der Charybdis einer multikulturellen Nationalitätengesellschaft. Ohne Zweifel wird das Grundgesetz Basis dieser neuen Einwanderergesellschaft bleiben, aber diese Erkenntnis hilft auch nicht viel weiter. Denn die Interpretation der Grundrechte ändert sich laufend, und eine ganz bestimmte Integrationspolitik schreibt die Verfassung nicht vor. Die Idee, die "deutsche Leitkultur" zum Maßstab für Integration zu erklären, musste scheitern, denn in einer pluralistischen Gesellschaft gibt es keine einheitliche Nationalkultur mehr. Unter keinen Umständen kann sie zum verbindlichen Kanon werden, ohne zugleich mit den zentralen Prinzipien des Grundgesetzes in Konflikt zu geraten.

Das Grundgesetz ist zwar offen für die Einwanderergesellschaft, aber kein ausreichender Wegweiser. Es ist jetzt Aufgabe der Politik, eine neue Form für die Gesellschaft zu finden. Eine Form, in der Einwanderer als gleichberechtigte Konstituenten der sich erneuernden Republik auf- und angenommen werden. Die Situation ist durchaus vergleichbar mit dem Beitritt der Deutschen aus der ehemaligen DDR. Es geht also darum, eine neue Normalität zu schaffen. Wenn das gelingt, ist dies der sichere Weg zwischen einem blutleeren Universalismus und einem autistischen Multikulturalismus.

Ulrich K. Preuß, Rechtsprofessor an der Freien Universität Berlin, wurde 1939 in Marienburg im früheren Westpreußen geboren. Immer wieder hat Preuß die ethische Blindheit der Verfassung angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforderungen beklagt. Die Grünen hätten den streitbaren Juristen gern am Bundesverfassungsgericht gesehen. Doch scheiterten sie mit ihrem Vorschlag am Widerstand der Union

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