Die andere Türkei

Eine verunsicherte EU sucht eine Haltung zu Ankara

Von Martin Winter (Brüssel)

Die jüngere Geschichte der nie einfachen Beziehung zwischen der Europäischen Union und der Türkei ist eine Geschichte von politischen Illusionen und einem schief gegangenen Kalkül. Als die EU das Land 1999 in den Status eines Beitrittskandidaten erhob, rechneten die Optimisten, allen voran die Deutschen, folgendermaßen: Eine klare Perspektive für eine EU-Aufnahme würde die reformerischen, demokratischen Kräfte in Ankara stärken, ja vielleicht eine regelrechte Aufbruchswelle in Gang setzen. Schließlich kann der EU nur beitreten, wer neben ökonomisch ausreichenden Muskeln auch politisch gefestigt ist in den Sparten Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat. "Die Türkei, die uns beitritt, wird eine ganz andere sein, als die, die wir heute kennen", pflegte Erweiterungskommissar Günter Verheugen Skeptikern entgegenzuhalten.

Nun scheint die Türkei eine andere zu werden, aber nicht so, wie die EU sich das vorgestellt hatte. Dabei waren die Warnzeichen nicht zu übersehen. Die wegen ihrer westlichen Gewandheit in Europa so respektierten Ismail Cem (Ex-Außenminister) und Mesut Yilmaz (stellvertretender Ministerpräsident) vertrödelten die Chance von 1999 und peitschten erst in diesem Sommer einige Reformen durch das türkische Parlament. Zu spät für einen demokratischen Aufbruch, der die Reformer erfolgreich hätte in die Wahlen tragen können. Das wurde in Brüssel zwar gesehen, aber man klammerte sich an die Hoffnung, dass zumindest der angesehene Finanzminister Kemal Dervisch mit seiner reformierten republikanischen Volkspartei eine Chance auf einen Sieg hat. Vollkommen unterschätzte man die Wut der Türken auf die alten Parteien.

Über die neuen Machthaber am Bosporus und ihren starken Mann Recep Tayyip Erdogan weiß man in Brüssel kaum etwas. Es hat zwar den einen oder anderen informellen Kontakt gegeben, aber es fehlt ein auch nur annähernd klares Bild, mit wem und mit was man es zu tun hat. Das könnte sich als desaströs erweisen. Denn die EU muss sehr schnell wichtige Entscheidungen in Streitfällen mit der Türkei fällen. Zypern etwa. Da mussten die europäischen Regierungen am vergangenen Freitag in der Financial Times eine Warnung des Erdogan-Stellvertreters Adullah Gül lesen: Die EU solle sich mit Entscheidungen über die geteilte Mittelmeer-Insel zurückhalten, bis die neue Regierung sich eine ausreichendes Bild über Lösungsmöglichkeiten gemacht hat. Mit anderen Worten, die EU soll ihre für den 14. Dezember geplante Aufnahme Zyperns ohne den türkisch besetzten nördlichen Teil verschieben. Das aber kann die EU nicht, weil dann auch die Aufnahme der anderen neun Beitrittsländer gefährdet ist. Griechenland hat nie einen Zweifel gelassen, dass es der Erweiterung nur zustimmt, wenn Zypern dabei ist.

Ein anderes Problem ist der gesicherte Zugang der EU zu Einrichtungen der Nato. Der wird von der Türkei blockiert, was die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in eine zunehmend peinliche Lage bringt. Alle Versuche von EU-Chefdiplomat Javier Solana sind gescheitert, die Türken zum Einlenken zu bewegen. Schon die alte Regierung in Ankara hielt die Zypern-Frage und das Nato-Problem als Pfand in der Faust, um der EU ein festes Datum für den Beginn von Aufnahmeverhandlungen abzupressen. Als wäre das nicht genug, sitzen den europäischen Regierungen auch noch die USA im Nacken. Washington drängt aus geostrategischen Gründen auf eine schnelle Aufnahme der Türkei in die EU. Der Druck zeigte schon vor den Wahlen Wirkung: Obwohl die Türkei EU-intern als politisch nicht reif für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gilt, bereitet die Union für Ankara eine "Rendezvous-Klausel" vor. In der Praxis heißt das, dass sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen im Dezember in Kopenhagen auf einen Termin einigen wollen, an dem sie über das von Ankara verlangte Datum zum Beginn der Beitrittsverhandlungen entscheiden wollen.

Ob das der neuen türkischen Regierung ausreicht, weiß niemand zu sagen. Und in der EU dürften die Zweifel wachsen, ob so ein Angebot sinnvoll ist, so lange man kein klares Bild davon hat, ob die Islamisten sich tatsächlich zu einer konservativen Partei moderner Provinienz gewandelt haben. Oder ob sie im Kern der alte Verein geblieben sind und die Türken mit dieser Wahl darum selber bewiesen haben, dass sie für die EU nicht reif sind. In Brüssel weiß niemand, auf welche der beiden Möglichkeiten man setzen soll. Variante eins würde der Union erlauben, der Türkei die Tür ein wenig weiter zu öffnen. Bei Variante zwei müsste sie zugeschlagen werden. Das aber traut sich zur Zeit keiner. So kaschiert Brüssel seine Unsicherheit vorerst mit unterkühlten Feststellungen - etwa der, dass man von dem Wahlergebnis Kenntnis genommen habe und die neue Regierung nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten messen würde. (Frankfurter Rundschau vom 5.11.2002)

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