Die arabische Kultur wurzelt auch im Westen

"Die Poesie kann niemals ein Verbündeter des Krieges und der Gewalt sein". Ein ZEIT-Gespräch mit dem palästinensischen Dichter Mahmoud Darwisch,

von Jens Jessen und Youssef Hijazi (Gesprächsführung)

DIE ZEIT: Herr Darwisch, auch Sie haben, wie viele arabische Dichter, einen großen Teil Ihres Lebens im Exil verbracht. Wie begann Ihr Emigrantenleben?

Mahmoud Darwisch: Die erste Flucht von 1948 war Teil einer kollektiven Flucht, eines kollektiven Exils. Hunderttausende Palästinenser wurden bei Beginn des Krieges (des Palästinakrieges nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung, Anm. d. Red.) aus ihren Dörfern und Städten vertrieben. Für ein Jahr blieb meine Familie im Libanon, dann kehrten wir heimlich über die Grenze zurück. Von unserem Dorf fanden wir nicht einmal mehr Trümmer, wir lebten als Flüchtlinge im eigenen Land. Während unserer Abwesenheit führte man eine Volkszählung durch, nach der man uns mit dem gesetzlichen Status "Anwesende Abwesende" belegte. Meine Ausreise im Jahr 1970 dagegen war nicht mehr Teil einer kollektiven Flucht. Offiziell gab es keine Abschiebung, aber ich lebte unter Umständen, die mich in dieses mehr oder weniger freiwillige Exil zwangen. Annähernd zehn Jahre lang durfte ich Haifa nicht verlassen, drei Jahre lang stellte man mich zusätzlich unter Hausarrest. Nach meiner Emigration lebte ich ein Jahr lang in Moskau, zwei Jahre hielt ich mich in Kairo auf, und in den zehn Jahren, in denen Beirut mein Aufenthaltsort war, wurde ich Zeuge des libanesischen Bürgerkrieges und der israelischen Invasion 1982. Nach den Massakern von Sabra und Schatila verließ ich Beirut, floh zuerst nach Tunis und von dort weiter nach Paris, wo ich mehrere Jahre lebte. Dann kehrte ich nach Amman zurück und von hier aus 1996 nach Ramallah.

ZEIT: Zur Zeit Ihres Stadt- und Hausarrestes waren Sie Mitglied der Kommunistischen Partei Israels. Später gehörten Sie ein paar Jahre dem Exekutivkomitee der PLO an. Wie verhalten sich der Politiker und der Dichter Mahmud Darwisch zueinander? Ist Dichtung überhaupt politisch bedeutsam? Zugespitzt: Dient die Dichtung dem Frieden oder dem Krieg?

Darwisch: Eine wirklich humane Dichtung kann nicht dem Krieg dienen. Ihrem Inhalt und Wesen nach steht sie im Dienste des Friedens. Sie spricht von der Verbundenheit zwischen den Menschen, sie erzählt von der Verteidigung der Freiheit, der Schönheit - der Schönheit des Lebens. Die Poesie kann niemals ein Verbündeter des Krieges und der Gewalt sein. In ihr spiegeln sich das Erstaunen des ersten Menschen, die Freude über das Universum und die Angst vor Vergänglichkeit. Ihr Anliegen ist es, Widerstand zu leisten gegen alles, was die Freiheit des Menschen oder die Herrlichkeit des Lebens bedroht.

Liest man ein Gedicht, so erkennt man die Seele des Volkes, der diese Dichtung entstammt, liebt diese Sprache und ihre Bilder. Das heißt, die Poesie führt die Menschen zusammen und treibt sie nicht auseinander. Was aber die Beziehung zwischen dem Politiker und dem Dichter in meinem Inneren anbelangt, so glaube ich, dass die historischen Umstände und die gesellschaftlichen Konstellationen, in denen ich lebe, mir den Luxus nicht bieten können, mich von der Politik fern zu halten. Würde ich behaupten, ich hielte mich von der Politik fern, hieße das, ich hätte den Zugang zur Realität verloren. Die Politik in unserer Region hat einen anderen Stellenwert als in einer Gegend ohne Krieg.

Meine Beteiligung an der politischen Arbeit ist heute allerdings unfreiwillig. Ich sitze in meiner Wohnung und sehe vor meinem Fenster einen Panzer, so kommt die Politik zu mir, auf dem Rücken eines Panzers. Der Baum, unter dem ich Schatten suche, ist am nächsten Tag abgeholzt. Es ist die Politik, die ihn abholzt. Zwischen Schwert und Blut habe ich nicht die Möglichkeit, neutral zu bleiben, denn es ist mein Blut, das fließt. Die Frage ist aber, wie sich diese Beziehung zwischen Politik und Dichtung ausdrückt. Ich vermeide es, die Politik in einem Gedicht unmittelbar werden zu lassen. Zur Poesie gehören ein tiefes Empfinden und ein Durchdringen der Gegenstände und Erscheinungen, die nur poetisch formuliert werden können. Ich bin außerhalb des Gedichtes politisch tätig. Möglicherweise findet man in Poemen eine politische Ebene, sie sollte aber versteckt sein, damit das Gedicht ein Gedicht bleibt.

ZEIT: In Ihren frühen Gedichten stand Palästina im Mittelpunkt. Später gingen Sie zu allgemein menschlichen Themen über. Sind Sie mit Ihrem letzten Band Belagerungszustand zu einer spezifisch palästinensischen Dichtung zurückgekehrt?

Darwisch: Nein! Nein, ich kehre auf keinen Fall zu den Anfängen zurück. Es gibt für mich keine Rückkehr zu einem früheren Stil. Ich entwickle mich weiter und rebelliere gegen meine poetischen Errungenschaften. Seit meiner Rückkehr nach Palästina habe ich auch einen Gedichtband über die Liebe und einen über den Tod herausgegeben. Der Zustand der Belagerung aber ist eine Realität, die ich tagtäglich erdulde und die ich in poetischen Tagebüchern festhalte. Dies ähnelt aber in keiner Weise früheren Arbeiten, da ich heute einen asketischen Stil bevorzuge. Ich arbeite mit komplexen Bildern, die eher Sequenzen aus einem Kinofilm gleichen. Diese Methode ist völlig neu für mich. In der modernen Dichtung wird übrigens niemals nur ein einziges Thema innerhalb eines Gedichtes behandelt. Sämtliche Themen sind miteinander verwandt und verflochten. Das moderne Gedicht ähnelt einem dichten Netz, gleich einer komplexen menschlichen Situation.

ZEIT: Wie konnte es überhaupt zu einer modernen arabischen Dichtung kommen, obwohl die arabische Welt eine Erneuerung auf politischer, gesellschaftlicher und geistiger Ebene ablehnt? Bildet die Dichtung eine Ausnahme?

Darwisch: Das in der Tat ist das eigentliche Dilemma der arabischen Dichtung. Wie soll ein Dichter modern sein in einer Gesellschaft ohne Moderne, in einer Gesellschaft, die quasi in einer Vormoderne verharrt? Es gibt in der arabischen Welt keine Erneuerung außer in der Poesie und in den Sicherheitsapparaten. Das führt dazu, dass sich die zeitgenössische arabische Dichtung wie auf einer umzingelten Insel bewegt. Sie steht unter dem Druck der Tradition ebenso wie unter dem Druck derer, die sich dem poetischen Erbe dezidiert entgegenstellen, und doch hat sich die moderne Dichtung weitgehend behauptet.

ZEIT: Glauben Sie an eine Vereinbarkeit zwischen Erneuerung und Tradition?

Darwisch: Ich denke nicht, dass moderne Dichtung zwangsläufig jede Tradition zerstören muss, sie ist vielmehr ein Ergebnis der Literaturgeschichte. Beginnend mit dem Zeitalter der djahiliya (dem vorislamischen Zeitalter) bis zum heutigen Tag hat es in der arabischen Dichtung eine Reihe von Erneuerungsbewegungen gegeben. Modernität in der Poesie meint eine ständige Erneuerung der Sprache, sie folgt immer dem Rhythmus ihrer Epoche, in ihrer Gesamtheit wie im Einzelgedicht. Die Geschichte der arabischen Poesie kennt weniger den vollständigen Bruch mit der Vergangenheit als vielmehr Rebellion und Distanzierungen, innerhalb derer wir von Stationen der Erneuerung sprechen können. Manche Neuerungen kennen ihr Erbe nicht, es handelt sich dann um unreife Neuerungen. Sie finden bei der arabischen Hörerschaft keinen Zuspruch. Es gibt aber auch akzeptable Neuerungen, die notwendig sind und aus dem Kontext der literarischen Entwicklung und aus der Wechselwirkung mit anderen Literaturgattungen erwachsen. Es gibt eine Elite von Dichtern und eine gebildete Leserschaft - sie sind die Förderer poetischer Neuerungen.

ZEIT: Halten Sie eine Verwestlichung der arabischen Kultur für erstrebenswert?

Darwisch: Das habe ich nicht gesagt. Im Übrigen gibt es auch keine fertigen Lösungen. Die arabische Kultur sollte sich immer wieder selbst infrage stellen. Trotz der wünschenswerten Öffnung gegenüber der gemeinsamen Grundidee, die den menschlichen Kulturen zugrunde liegt, sollte die arabische Kultur sich nicht einfach verwestlichen. Sie sollte auch nicht in der Tradition verharren. Es gibt die Möglichkeit zu einem Dialog und zum Austausch zwischen den arabischen und anderen Kulturen, die sich ja sowieso gegenseitig beeinflussen. Alle Kulturen sind miteinander verwandt, sie leben miteinander und sind ineinander verflochten. Wenn wir weder Gefangene unserer Traditionen bleiben noch uns in anderen Kulturen auflösen, ist unsere kulturelle Identität auch nicht gefährdet.

ZEIT: Hat sich das Bild des Westens in der arabischen Welt nach dem 11. September verändert?

Darwisch: Das ist nicht die Frage, die der 11. September stellt, vielmehr fragt er: Wie hat sich das Bild des Arabers in der Wahrnehmung der westlichen Welt verändert? Dort hat sich die Ansicht verfestigt, dass jeder Araber ein Muslim und jeder Muslim ein Terrorist ist. Dagegen ist die Vorstellung vom Westen in der arabischen Welt unverändert geblieben. Sie wird weiterhin durch das Bild des Anderen, nicht durch das Bild vom Feind bestimmt. Natürlich gibt es keine einheitliche arabische Sichtweise. Es gibt die Sicht der Fundamentalisten, die manchmal mit den Ideen der neuen amerikanischen Fundamentalisten zusammentrifft: eine Welt, in zwei Teile gespalten, in das absolut Gute und das absolut Böse. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Diese Sprache wird sowohl von George Bush als auch von Osama bin Laden gesprochen. Das ist aber nicht die Sicht der arabischen Intellektuellen. Unsere kulturelle Identität wurzelt auch in der westlichen Welt. Kulturen bestehen aus Akkumulationen und gegenseitiger Beeinflussung. Unsere Existenz und unser Denken entspringen nicht nur islamischen Quellen, sondern basieren auch auf geistigen Fundamenten des Westens, und sie finden sich in jedem von uns wieder. Ich meine damit westliche Kultur, nicht Kolonialismus, und insbesondere meine ich die humanistische Kultur, die der Westen hervorgebracht hat, ein Allgemeingut jedes Menschen. Wenn ich den Westen ablehnte, hieße das, mich selbst aus diesem historischen Kontext herauszukatapultieren. Kulturen befinden sich nicht im Kriegszustand, vielmehr in einem Zustand von Koexistenz, sie leben und profitieren voneinander.

ZEIT: Die arabischen Länder leiden aber unter ihren Diktaturen. Könnte ein Krieg gegen den Irak die westliche Demokratie in den Nahen Osten bringen, wie manche irakische Intellektuelle im amerikanischen Exil es hoffen?

Darwisch: Die Beziehungen Amerikas zu den arabischen Regierungen basieren nicht auf dem Bestreben nach einer Demokratisierung der Region. Amerika ist dort mit den schlimmsten Diktatoren verbündet, nicht etwa mit der Demokratie. Hätte es am Vorabend des Golfkrieges 1991 eine Volksabstimmung in den arabischen Ländern gegeben, wäre die Mehrheit gegen diesen Krieg gewesen. Und gäbe es heute arabische Demokratien, so würden sie ihre Zustimmung für einen Angriff gegen ein anderes arabisches Land ebenfalls verweigern. Es ist um einiges leichter für Bush, mit einem arabischen Emir oder Präsidenten zu telefonieren, um eine Zusage zu erreichen, ohne die Zustimmung eines Parlaments. Ich denke nicht, dass Demokratie mit amerikanischen Panzern und Kriegsflugzeugen in den Irak gebracht werden kann. Amerika besitzt zwei heilige Kühe. Die eine ist das Öl, die andere der Schutz der israelischen Besatzung, ich meine, wohlgemerkt, die israelische Expansionspolitik und nicht den Schutz der Existenz Israels. Erwartet man wirklich von der amerikanischen Armee, dass sie dem Irak die Demokratie auf einem Tablett reicht, als Diener der Araber, dass sie dafür ihr Blut und ihr Leben gibt? Amerika geht es nicht um die Errichtung von Demokratien im Nahen Osten, sondern um die Monopolisierung der Erdölreserven und ihre Beherrschung.

ZEIT: Sie haben Freunde unter israelischen Intellektuellen. Wie war deren Reaktion, als neulich die israelische Armee Ihr Büro angriff und Ihre Manuskripte zerstörte?

Darwisch: Israel antwortete direkt nach meinem Auftritt auf dem Beiruter Literaturfestival im April und sandte eine klare Botschaft. Ich hätte sie auch ohne den Besuch der Militärs verstanden. Ich weiß, dass sie die Stärkeren sind. Der Angriff auf mein Büro und andere kulturelle Einrichtungen hat die israelischen Intellektuellen in Bedrängnis gebracht, sie haben diese Attacke als überflüssig bezeichnet. Leider ist die Friedensbewegung in Israel entweder im Rückzug begriffen, oder sie stagniert. Eigentlich müsste sie unter Scharon besonders aktiv sein, doch die Beteiligung der Arbeitspartei an der Regierung schwächt sie eher.

Überhaupt hat das israelische Bewusstsein von der Notwendigkeit eines Friedens gerade unter dem Einfluss der Arbeitspartei sehr gelitten. Die Friedenskräfte sind geschwächt, doch Einzelne erheben ihre Stimme. Nicht nur die Koexistenz zwischen den beiden Völkern ist in Gefahr, sondern die Idee des Friedens an sich. Wir fallen um Jahre zurück, als hätte es einen Friedensprozess nie gegeben. Scharon setzt den Unabhängigkeitskrieg von 1948 fort, als wäre er nie beendet worden. Was bedeutet das für uns? Die Vernichtung der nationalen palästinensischen Interessen. Mag sein, dass ich pessimistisch in die nahe Zukunft blicke. Falls Amerika den Irak angreift, könnte Israel im Zuge dieses Krieges die Palästinenser mit der Vertreibung aus dem Westjordanland bedrohen.

ZEIT: Sie wollen im Gegenteil sogar das Rückkehrrecht für alle Palästinenser. Halten Sie diese Forderung für realistisch und umsetzbar?

Darwisch: Die palästinensische Frage begann nicht erst 1967, sondern im Jahre 1948. Seitdem ist das Problem die Flüchtlingsfrage. Die UN-Resolution 194 spricht ausdrücklich vom Rückkehrrecht beziehungsweise vom Recht auf Entschädigung. Die Anerkennung dieses Beschlusses durch Israel war die Bedingung für die Aufnahme Israels in die UN. Ohne die Umsetzung der Resolution 194 wird es keine Lösung für die Palästinafrage geben. Die Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens im Jahre 1967 und die israelischen Siedlungen kamen später hinzu. Aber dass der Flüchtlingsfrage weitere Probleme folgten, bedeutet nicht, dass die Flüchtlingsfrage etwa verjährte oder nicht mehr existent wäre. Niemand von uns macht sich hier Illusionen, und kein Palästinenser fordert die Rückkehr der insgesamt vier Millionen Flüchtlinge nach Israel. Wir reden über das Prinzip des Rückkehrrechtes, nicht über seine wortwörtliche Auslegung. Dieses Recht kann in Verhandlungen über die konkrete Anzahl der Rückkehrer umgesetzt werden. Wenn die Palästinenser aber nicht einmal das Gefühl haben können, dass sie ein prinzipielles Recht auf Rückkehr haben, wird es zu keinem dauerhaften Frieden kommen. Israel sollte zu seiner Verantwortung für das Flüchtlingsproblem stehen, sich dafür entschuldigen und das Rückkehrrecht prinzipiell anerkennen.

ZEIT: Und das Problem Jerusalem?

Darwisch: Das Problem ist die offizielle israelische Denkweise, die nicht zugibt und auch gar nicht zugeben will, dass es sich um besetzte Gebiete handelt. Israel zählt die Gebiete von 1967 zu Großisrael und gestattet den Palästinensern den Aufenthalt auf ihrem Boden. Israel will die Palästinenser nicht als ein Volk mit einem gemeinsamen Gedächtnis und einer klar umrissenen Identität wahrnehmen. Die Palästinenser haben aber das Recht, wie ein Volk zu leben, und somit auch ein Recht auf Eigenstaatlichkeit. Für Israel war das Oslo-Abkommen lediglich ein Sicherheitsvertrag. Die Palästinenser aber betrachten Oslo als ein Projekt zur Verwirklichung ihrer Unabhängigkeit. Diese unterschiedlichen Interpretationen kollidieren seit zwei Jahren. Seither ist viel Blut geflossen, dabei ist die Lösung des Problems sehr einfach. Israel würde die Anerkennung aller arabischen Staaten erhalten, wenn es sich auf die Gebiete vor 1967 zurückzöge. So sieht der arabische Friedensplan aus, der in Beirut im März dieses Jahres verabschiedet wurde. Israel muss also nicht um seine Existenz bangen, wie immer vorgegeben wird, es muss sich lediglich von 22 Prozent des historischen Palästina zurückziehen. Die Palästinenser haben ihre großen Träume aufgegeben, auch Israel sollte von seinen Illusionen lassen. Wenn die Realität weiterhin von Mythen und Aberglauben verdunkelt wird, werden wir noch mehr Gewalt ernten.

ZEIT: Sie haben einmal gesagt: "Jerusalem ist für die Menschen, die dort leben, und nicht für das Gedächtnis der Propheten."

Darwisch: Man sollte auch die Stadt Jerusalem nicht als Mythos betrachten. Jerusalem ist beladen mit Symbolen. Die Realität liegt im steten Kampf mit den Symbolen des Mythos und mit der Zeit. Die Symbole selbst sind in einem ständigen Streit, die jüdischen, christlichen und auch die islamischen, und hinter den Symbolen verschleiert sich die Wirklichkeit. In der Realität aber ist Jerusalem weder ein Gedicht noch ein Mythos. Die Propheten konnten zu einer Lösung gelangen, weil ihre Verhandlungen unter der Schirmherrschaft Gottes standen.

ZEIT: Gibt es eine weltliche Lösung für Jerusalem?

Darwisch: Ich trage die Vision in mir von einem gemeinsamen Jerusalem für alle Bürger. Von dem historischen Palästina als einem Staat für seine jüdischen und arabischen Bewohner. Das jedoch bleibt vorerst der Traum eines Dichters. Um dieser Vision in die Welt zu verhelfen, brauchten wir zunächst das Experiment von zwei unabhängigen Staaten. Sie würden das Miteinander erproben und sich eventuell zu einem gemeinsamen Staat aller Bürger entwickeln. Ostjerusalem wäre die Hauptstadt Palästinas, Westjerusalem die Hauptstadt Israels. Es gäbe ein Rathaus, eine gemeinsame Verwaltung und eine Tourismusbehörde für alle drei Religionen. Diese Vorstellung könnte aber nur verwirklicht werden, indem Israel den Palästinensern das Recht auf einen unabhängigen Staat mit der Hauptstadt Ostjerusalem zugesteht. Vor der Regierung Scharon gab es die Verheißung einer gewissen Form der Koexistenz, bis sich das gegenwärtige Verständnis des Osloer Abkommens als bloßer Sicherheitsvertrag durchsetzte, der Israel zu nichts verpflichtet. So konnte kein geografisch zusammenhängendes Gebiet entstehen, auf dem ein palästinensischer Staat hätte errichtet werden können. Ich glaube auch nicht daran, dass es zu einem solchen Staat kommen kann, solange die Siedlungen fortbestehen. Sie sind es, die die palästinensische Erde zerstückeln.

Mahmoud Darwisch wurde 1941 in Palästina geboren. Die Familie floh 1948, kehrte aber nach Israel zurück, wo er die Schule besuchte, als Redakteur arbeitete und die kommunistische Wochenzeitung "al-Ittihad" herausgab, 1970 emigriertre er; heute lebt er in Amman und Ramallah. Darwisch zählt zu den berühmtesten arabischen Lyrikern der Gegenwart. Auf Deutsch liegen vor: "Weniger Rosen". Gedichte (1996), "Palästina als Metapher. Gespräche über Literatur und Politik" (1998), "Warum hast du das Pferd allein gelassen?". Gedichte (2000), "Wir haben ein Land aus Worten". Ausgewählte Gedichte 1986-2002 (2002; darin auch Gedichte aus dem Band "Belagerungszustand")

Aus dem Arabischen von Simone Britz

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