Emile Zola

"Homer der Moderne" nannten ihn die einen - die anderen beschimpften ihn als "italienisches Dreckschwein". Der Vater der Intellektuellen ist vor hundert Jahren gestorben

von Rolf-Bernhard Essig

Wer einen Film über ihn machen wollte, begänne vielleicht so: Erst vier Knabenfüße, die aus dem trockenden Gras ragen - in der sirrenden Hitze der Landschaft um Aix-en-Provence genießen der kleine Émile Zola und sein Freund Paul Cézanne den großen Mittag. Eine andere Szene: In Geschrei und Gewühl einer morgendlichen Markthalle sucht der junge Zola essbare Reste, weil sein Traum vom Schreiben den Bauch nicht füllt. Dann gedämpfte Atmosphäre, ein weites Arbeitszimmer im orientalischen Stil, überladen mit Teppichen, dunklem Mobiliar, auf dem Schreibtisch des Erfolgsautors drängen sich die Zettelkästen, Bücher, Papiere, Federhalter.

Plötzlich grauer Himmel, ein städtischer Platz voller Menschen. Eine kreischende Menge. Warum drängt sie, schwingt Totschläger? "Mort à Zola!", hört man, dann Fensterscheiben, immer mehr splitternde Fensterscheiben. Zola mit dem Binocle auf der Nase, abgeschirmt von seinem Verteidiger und seinen Freunden, flieht vor dem Mob, der ihn für einen Judenknecht und Vaterlandsverräter hält, weil er Hauptmann Dreyfus verteidigt.

Das letzte Bild dieses imaginären Films zeigt zwei Kinder und ihre Mutter in einem Vorraum, es sind Jeanne Rozerot, die langjährige Geliebte Zolas, mit den gemeinsamen Kindern Dénise und Jacques Émile, die lange warten müssen, bis der offizielle Beileidscour bei der Witwe Alexandrine Zola abreißt und sich die Tür öffnet, sodass auch die drei endlich Abschied nehmen können. Im Kerzenschein liegt der tote Zola, untersetzt, vollbärtig, buschige Augenbrauen, herabhängende Mundwinkel, als läge tiefe Erschöpfung auf ihm.

Ein verstopfter Ofen hatte den Ritter der Ehrenlegion in der Nacht auf den 29. September 1902 mit seinen Dämpfen erstickt. Unfall? Mord? Die Selbstbezichtigung eines Arbeiters zwanzig Jahre später, er habe den Kamin mit Bauschutt verstopft, weil in rechten Kampfblättern der Tod des Autors gefordert wurde, verfolgte man nicht. Ein Verdacht schwelt weiter.

Aus ganz Europa trafen Beileidsbriefe in Paris ein, und auch Karl Kraus warf der internationalen Berühmtheit drei Schäufelchen Nachruf ins Grab, zweieinhalb für den Autor, eine halbe für den Dreyfusard: "An seiner Bahre wetteifern Freund und Feind, ihm das literarische Gepäck zu erleichtern, und ein Zeitungsblatt, auf dem das J'accuse steht, ward allein für tauglich befunden, dem Verweser des reichsten Archivs menschlicher Dokumente als Paß für die Nachwelt zu dienen, zu einer Unsterblichkeit des Ruhms, wie die Einen, der Schande, wie die Anderen verkünden. (...) Allen, die die Kunst lieben, ist Zola gestorben; und es ist ein tröstliches Bewußtsein, daß er nicht denen gelebt hat, die sein Tod nur vor die Frage stellte: Wird Dreyfus hinter dem Sarge gehen?"

Recht und Unrecht behielt Karl Kraus, denn Zola kam auf die Nachwelt mit zwei Pässen, seinem unvergleichlichen Werk und seinem politischen Engagement, für das sein offener Brief J'accuse stellvertretend steht.

Massiv verankert im französischen Bewusstsein sind seine Romane, und weltweit ist Zola der meistgelesene Autor des 19. Jahrhunderts, vor allem mit den fast sprichwörtlichen Titeln Nana, L'Assomoir, La Bête humaine, Le Ventre de Paris, Germinal. Diese Bücher emanzipierten sich aus dem Zusammenhang des zwanzigbändigen Zyklus der Rougon Macquart, Zolas sozialhistorischen Panoramas und Panoptikums, dessen Teile durch die Mitglieder einer Familie über fünf Generationen verbunden werden: Wäscherinnen, Spekulanten, Huren, Ärzte, Geistliche, Soldaten, Politiker. Sie gelten als Versuchskaninchen in dem, was Zola den roman expérimental nennt, und hoppeln doch immer wieder eigene Wege, schlagen Haken, entziehen sich den Laborbedingungen. Mit dem über zehntausendseitigen Werk will der "Homer der Moderne" (Lemaître) eine vollständige Anamnese der Gesellschaft seiner Zeit vorlegen.

Literatur = Natur - x

Als einer der ersten Autoren recherchiert Zola fast journalistisch vor Ort: in den Kohlerevieren und in Lourdes, in den Bordellen und an der Börse, auf der Lok und im Kaufhaus. Er bedrängt - gierig nach Hintergrundwissen - Freunde und Bekannte, beutet nicht nur deren Anekdoten, sondern oft gleich deren Biografien aus; Cézanne, der Gefährte aus Kindertagen, wird deshalb mit ihm brechen. Für die Realitätsnähe seiner naturalistischen Ästhetik prägt er die Formel "Literatur = Natur - x", sein Schreiben bezeichnet er als méthode analytique et expérimental, die wissenschaftliche Grundlage von Handlung und Charakteren findet er in der zeitgenössischen Vererbungs- und Milieutheorie, doch folgt er ihr zum Glück nicht sklavisch.

Was er bei seiner tiefschürfenden Analyse zutage fördert, empört viele Leser und die etablierte Literaturkritik erst recht. Tiefer noch verachtet man Zola als die Gründer des Naturalismus, die Brüder Goncourt, denn er geht weit über sie hinaus mit der unerhört brutalen Schilderung von Elend, (sexueller) Gewalt, Verbrechen in allen Teilen des Volkes. Ein Archivar und Arzt der Gesellschaft müsse, gibt Zola zu bedenken, auch Perversionen in aller Krassheit schildern. Als Kind seiner Zeit tendiert er dabei durchaus zu Pathos, Schwulst, Megalomanie; der Kitsch schwebt drohend über seinem Haupt. Typen, überdeutliche Symbolik, Standardsituationen und Versatzstücke scheut der literarische Ingenieur so wenig wie die Architekten seiner Epoche. Ins Gewicht fällt das allerdings nicht besonders, denn Zolas Prosa besitzt unwiderstehlichen Schwung, seine heilige Wut treibt oft das Drastische so weit, bis es die Sensation hinter sich lässt und ins Mythische übergeht. Seine Freude an Details und immer mehr Details überführt er in eine Poesie der Dinge. Das alles hebt ihn hoch über seinen naturalistischen Anspruch hinaus, macht ihn zum wichtigsten Autor seiner Zeit neben Flaubert.

Den Karikaturisten im Dienste der Rechten und der Klerikalen jedoch dient er bis zu seinem Tod als Lieblingsmotiv: Zola, das Schwein im Dreck, der Maler, der einen Topf mit "caca" benutzt, um Frankreich zu beschmutzen, der Scheißegeborene, einem Plumpsklo entsteigend. Schamgrenzen existieren für die Karikaturisten nicht, schon gar nicht, als sich Zola in die Dreyfus-Affäre einmischt. Jetzt wird er, der Sohn eines naturalisierten Italieners, sogar zum Ausländer, Judenknecht und Sohn eines Betrügers gestempelt.

Die komplexe Staatsaffäre um den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus mit ihrer plumpen Rechtsbeugung, ihrem Filz aus Militär, Kirche und reaktionärer Presse, den Dunkelmännern und strahlenden Helden scheint wie aus einem Zolaschen Roman entsprungen, und der Autor gibt zu, dass ihn, der harte Kontraste und dramatische Handlungen so liebt, die Affäre zuerst als Stoff interessierte. Bald erkennt er, dass sie ihm darüber hinaus die Möglichkeit bietet, den literarischen Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit nun auch politisch zu führen.

Seine Artikel und offenen Briefe für Dreyfus, allen voran der so oft missverstandene Appell J'Accuse an den Präsidenten der Republik vom 13. Januar 1898, wirken wie der Zündfunke an einem Haufen Schießbaumwolle. Die Explosion, der Urknall der Intellektuellen, übertrifft alle Erwartungen - noch heute lässt sich weit mehr als ein Hintergrundrauschen davon hören. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen verlagerte sich durch sein Eingreifen entschieden: Die Affäre Dreyfus scheint in seinen Artikeln manchmal zur Affäre Zola zu werden. Des Meisters "moralische backside" (Lichtenberg) wird in den Schriften sichtbar, tendiert er doch zu Angst, Egozentrik, Klagen.

Bedenkt man die mörderische Situation von Alfred Dreyfus auf der Teufelsinsel, erscheinen Zolas Briefe und Artikel über sein Martyrium im englischen Exil - er lebte mal in Hotels, mal in Landhäusern - fast geschmacklos wehleidig. Dass aber der Schüchterne, Ängstliche und Saturierte sich selbst überwand und in der Affäre seine ganze Existenz bewusst aufs Spiel setzte, um für ein moderneres, gerechteres, freieres Frankreich zu kämpfen, ehrt ihn noch heute. Die intellektuelle Nachwelt verkleinert Émile Zolas Leistung, wenn sie die Irrtümer und menschlichen Schwächen verdrängt. Doch spätestens mit der Rehabilitation von Dreyfus und der Überführung von Zolas Leichnam in das Panthéon 1908 galt Kritik am Vater der Intellektuellen als reaktionär. Gegen diese Hagiografie, die dem durchaus selbstkritischen Zola fern lag, ist fast kein Kraut gewachsen.

Das Elend der Kohlegruben

Selbst in der aktuellen, bemerkenswert gediegenen und gut gebauten Biografie Zolas von Veronika Beci zeigt sich im Kapitel über die Dreyfus-Affäre ein Hang zur Apologie, zur Verkürzung. Dabei kennt Beci, weit entfernt von langweiligem Chronologiepurismus, sonst keine falsche Rücksichtnahme, interpretiert das Werk so klug wie den Charakter, zeichnet - nicht ohne Witz - das soziale und politische Umfeld so plastisch wie das künstlerische. Am Ende präsentiert sie sogar eine Zusammenfassung fast aller Werke Zolas, um zur Lektüre zu verführen.

Wie lohnend, wie brisant die immer noch ist, erfährt man in Caroline Vollmanns neuer Germinal-Übersetzung. Hier kommt einer der bekanntesten Romane handlich und in frischem sprachlichen Gewand daher, das wie Nanas verführerische Negligés das Reizendste nur noch besser zur Geltung kommen lässt; dabei ist es ein Lumpengewand: Germinal zieht tief hinein in die bestürzende, schaurige Elendswelt der Kohlegruben, eine mythische Tragödie und gleichzeitig eine minutiöse Beschreibung von Zuständen, die nur scheinbar historisch sind. Wer Kevin Bales Buch Die neue Sklaverei liest, wird erfahren, dass heute in vielen Stollen der Dritten Welt unter ähnlichen und schlimmeren Bedingungen Sklaven an der Arbeit krepieren.

Veronika Beci: Emile Zola

Biografie; Artemis & Winkler, Düsseldorf 2002; 360 S., Abb., 28,- €

Emile Zola: Germinal

Roman; aus dem Französischen von Caroline Vollmann, Nachwort von Manfred Gsteiger; Manesse, Stuttgart 2002; 768 S., 24,90 €

Emile Zola: Paradies der Damen

Aus dem Französischen von Hilda Westphal, Nachwort von Gertrud Lehnert; edition ebersbach, Berlin 2002; 576 S., 26,- €

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