Das Glück, ein Vasall zu sein

Gegen das Großmachtstreben der USA hilft nur eins: Mitmachen

Von Jan Ross

Der Wettlauf der Vasallen hat begonnen“, empörte sich ein führender deutscher Europaabgeordneter, als Blair, Aznar und die übrigen Amerikafreunde in der vergangenen Woche ihre Solidaritätsadresse für George W. Bush und seine Irak-Politik publizierten. Vasallentum gilt als ehrenrührig. Der frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat in den neunziger Jahren europäische Auditorien regelmäßig mit der Bemerkung schockiert, der Kontinent sei ein Protektorat der Vereinigten Staaten. Das war durchaus nicht verächtlich gemeint, sondern zunächst einfach als Feststellung und dann als Appell zu mehr Eigenleistung der Europäer.

Doch selbst Polen, Tschechen oder Balten, die in ihrer pro-atlantischen Gesinnung schwer zu übertreffen sind, fanden solche Reden taktlos und beleidigend. Sie fühlten sich an die imperiale Zwangsordnung des Warschauer Paktes erinnert, der sie gerade entronnen waren. Ganz in diesem Sinne rempelte ein humanistisch gebildeter sozialdemokratischer Polemiker den amerikanischen Botschafter während des Wahlkampfs als „Prokonsul“ an, wie die sowjetischen Statthalter in der DDR es waren.

Vasallentum ist ein hässliches Wort, aber muss die Sache deswegen ganz verkehrt sein? Die globale amerikanische Hegemonie dürfte jenen Zustand darstellen, der einer erträglichen Weltverfassung noch am nächsten kommt. Die höhere Dignität der Vereinten Nationen, wo die Folterer und Handabhacker aus aller Herren Länder Sitz und Stimme haben, ist ein schwer begründbares Vorurteil. Die Europäer zeichnen sich, in der hannovermessenmäßigen deutschen Variante, durch Transrapid-Exporte nach China und Schlittenfahrten mit Putin aus; die französische Spielart ist stilvoller, aber stark illusionär, ein Großmachtfernweh von kränkbarster Damenhaftigkeit. Keine wirklichen Qualifikationen für einen konkurrierenden oder auch nur balancierenden Führungsanspruch.

Was wäre die Alternative zur amerikanischen Dominanz? Eine multipolare Welt, mit China, Indien, Russland als Zentren? Mag sein, dass sie einmal kommt. Aber dass wir, mit unserem ganz passablen Englisch und eher mittelmäßigen Chinesisch, dabei besser fahren als unter der Pax Americana, ist kaum zu glauben. Systeme des Kräftegleichgewichts, wie die „multipolare Welt“ eines wäre, sind rechtlich und moralisch besonders anspruchslos, Realpolitik pur, Carte blanche für jede Schurkerei im Innern der sakrosankten Einflusszonen; und die möglichen Mitbewerber für einen Platz am großen Spieltisch müssen allesamt als weniger idealistisch gelten als die Vereinigten Staaten. Auch Gesinnungsethiker sollten zugeben: Es spricht vieles dafür, auf die amerikanische Karte zu setzen.

Die Geschichte kennt manche Beispiele von Völkern und Regionen, die mit begrenzter Selbstständigkeit mehr Glück gehabt haben als mit voller Autonomie. Europa und Amerika werden derzeit gern mit Griechenland und Rom verglichen – die traditionsreiche, aber erschöpfte Kulturmacht, die unter die Herrschaft der jüngeren, roheren, dynamischeren Nachfolgerin fällt. Doch was auch immer das für den Hellenenstolz bedeutet haben mag, der zivilisationssatte Geschichtsherbst unter römischer Führung war für die Bürger von Athen, Korinth oder Theben gewiss eine erfreulichere Zeit als der Bruderzwist und die Selbstzerfleischung im Peloponnesischen Krieg, als die griechischen Stadtstaaten noch unabhängig waren. Wie ja auch Westeuropa nach den Verwüstungen bis 1945 unter der Obhut der Vereinigten Staaten kein schlechtes Leben hatte.

Schoßhund im Kriegsrat

Vasallentum soll hier nicht sklavische Hörigkeit heißen, nicht „Ja und Amen“ zu allem, was aus Washington kommt. Es bedeutet lediglich, sich als Teil eines gemeinsamen und nicht beliebigen Systems zu begreifen – der westlichen Welt eben, deren Schwerpunkt unverkennbar jenseits des Atlantiks liegt und nicht diesseits. Es gibt in den Vereinigten Staaten dutzenderlei Milieus, Regionen, Instanzen und Kräfte, die mit dem Weltbild und der konkreten Politik der gegenwärtigen Regierung keineswegs einverstanden sind: die New York Times oder die katholische Bischofskonferenz, die Gore-Wähler in den Großstädten und an der Küste oder vorsichtige Machtrealisten vom Schlage Henry Kissingers.

Sich in diese Debatte einzufädeln, mit dem informellen Bürgerrecht des Mit-Westlers, gewissermaßen als loyale Opposition in Übersee, dürfte für Bush-Kritiker hierzulande und sonst auf der Welt fruchtbarer sein als der angestrengte Versuch, ein „Gegengewicht zu den USA“ auf die globale Waage zu bringen. Denn Amerika hat zwar wenig Lust, auf „Europa“ im institutionellen Brüsseler Sinne zu hören, auf die Herren Solana oder Patten oder die gegenwärtige griechische Ratspräsidentschaft. Aber für individuellen Freundesrat von außen sind die Vereinigten Staaten viel weniger vernagelt als die meisten anderen Länder.

Das ist es, was Tony Blair begriffen hat, und deshalb wird er als „Schoßhund“ (poodle) von George W. Bush missverstanden. Wie töricht. Denn Blair agiert im Grunde wie ein amerikanisches Kabinettsmitglied mit eigenen Vorstellungen und Interessen, also etwa wie Colin Powell. Etwas Fiktives, sogar ein Schuss Selbstbetrug, bleibt dabei im Spiel, Blair ist schließlich nicht wirklich Minister in der Administration Bush. Auch gibt es am Ende, und besonders bei Gegendruck, einen Loyalitätszwang; die französisch-deutsche Opposition hat Blair wie Powell an die Seite der Falken gedrängt. Doch eine Art Gastrecht beim Washingtoner Kriegsrat hat sich der britische Premier gesichert.

Den Briten liegt es näher als anderen, sich in dieser Weise zu atlantisieren, nicht nur wegen der englischen Sprache und der angelsächsischen Fernverwandtschaft. Im Zweiten Weltkrieg sind die Militärapparate beider Länder geradezu ineinander verschmolzen; für die Zeit danach spielte Churchill mit dem Gedanken einer gemeinsamen britisch-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Öffentlichkeit, Medien, Popkultur, Lifestyle greifen über den Atlantik hinweg aufs engste ineinander. Wenn Wynona Ryder wegen Ladendiebstahls in Beverly Hills vor Gericht steht, dann ist das in unseren Zeitungen eine kleine Notiz im Vermischten. In der englischen Presse, auch in der seriösen, vom konservativen Daily Telegraph bis zum linken Guardian, sind es mehrspaltige Artikel mit Bild.

In den Zeiten der Globalisierung ist die Verflechtung mit den Vereinigten Staaten kein exklusiv angelsächsisches Phänomen mehr. Der frühere Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff pflegte von sich zu erklären, er sei ein Amerikaner mit deutschem Pass, was als Internationalitätsprahlerei albern klang. Doch es steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit darin. In gewisser Weise sind wir im Westen allesamt Amerikaner mit verschiedenen Pässen – oder, mit einem anderen Bild: Wir haben Anteile an diesem multinationalen Unternehmen erworben, und unser Wohlergehen hängt von seiner Ertragslage und vom Börsenkurs seiner Aktie ab. Es ist vernünftig, auf die Geschäftspolitik Einfluss zu nehmen, nicht aber, die Marktanteile der Konkurrenz vergrößern zu wollen.

Shareholder am Imperium

Die Vereinigten Staaten sind auf der Höhe ihrer Macht mit ihrer Ausstrahlung so prägend geworden, sie ziehen als Import- und Einwanderungsnation aber auch das Fremde und Äußere so magnetisch an, dass alle Weltfragen zugleich mehr und mehr zu inneramerikanischen Angelegenheiten werden. Wer seine Position im Nahen Osten festigen will, muss den Kongress und die Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten bearbeiten; die Israelis haben das schon immer gewusst, inzwischen macht auch Saudi-Arabien mit Zeitungsanzeigen und PR-Kampagnen davon Gebrauch. Und dieser Weltmittelpunktscharakter der amerikanischen Debatte beschränkt sich nicht auf die unmittelbaren Interessen der Washingtoner Außenpolitik. Der Essayist Timothy Garton Ash hat einmal bemerkt, wenn er ein wirklich gesamteuropäisches Publikum erreichen wolle, dann schreibe er für die Kommentarseite der International Herald Tribune oder, wenn’s etwas intellektueller sein soll, für die New York Review of Boo ks.

Gut, mag man sagen, Amerika ist der universale Marktplatz der Ideen und Dispute – aber muss es deswegen auch als politische Vor- und Führungsmacht akzeptiert werden? In der Gelehrten- und Literatenrepublik, auch in der Unterhaltungsindustrie, galt schließlich schon immer das Weltbürgerrecht; ein deutscher Kameramann kann in Hollywood Karriere machen und ein indischer Soziologe in Stanford Professor werden.

Die Politik funktioniert nach anderen Regeln. Der amerikanische Präsident ist allein den amerikanischen Wählern verantwortlich, und im Zweifel wird er auch nur auf sie Rücksicht nehmen. Gerade nach dem 11. September hat man doch erfahren, dass die Vereinigten Staaten nicht bloß der Inbegriff globaler Modernität sind, sondern mindestens ebenso eine sehr besondere und hoch bewusste Nation, ein Fahnenwald und Hymnengedröhn, patriotisch bis an die Grenze des Erträglichen und manchmal darüber hinaus. Da sollen wir mitjubeln und mitmarschieren?

Gewiss nicht. Amerika ist Nationalstaat und Imperium zugleich, und Aktien haben wir lediglich in seinem Projekt als Weltordnungsmacht, nicht in seinen souveränen Sonderinteressen. Auf den berüchtigten Washingtoner Alleingängen wie beim Klimaschutz liegt kein gesamtwestlicher Segen. Auch hier ist das Beispiel Tony Blairs lehrreich, der bei allem sicherheitspolitischen Atlantikertum ein vollkommen Bush-fernes, fast entwicklungshelferhaftes Bild von den internationalen Beziehungen pflegt, wie ja auch seine Gesellschaftsvision nicht eben die eines texanischen Konservativen ist.

Niemand in Europa wird auf die Idee kommen, sich am Waffenrecht der Vereinigten Staaten zu orientieren, an ihrer Affenliebe zur Todesstrafe oder auch nur an ihren Vorstellungen von gesellschaftlich akzeptabler Ungleichheit. Das ist in einer korrekt verfassten Schutz- und Bündnisbeziehung auch nicht zu verlangen. Dass mit dem Sowjetimperium etwas nicht stimmte, konnte man schon daran erkennen, dass die Vormacht ihre Satelliten nicht nur dominieren, sondern auch bolschewisieren und russifizieren wollte.

Es sind allein die hegemonialen Aufgaben im engeren Sinne, bei denen man im Geleitzug mit dem großen Flugzeugträger fahren sollte. Der Kampf gegen den globalen Terrorismus oder die Verbreitung von ABC-Waffen, auch die Ölversorgung der Industrieländer sind keine amerikanischen Spezialinteressen, sondern Weltaufgaben, die von der einzigen Supermacht treuhänderisch wahrgenommen werden. An der Art, wie das geschieht, mögen wir viel auszusetzen haben, und solange noch etwas zu ändern ist, wird mit- und dreinzureden sein. Aber wenn die Vereinigten Staaten doch das Falsche tun, können wir nicht anders als hoffen, dass es trotzdem gelingt.

(Aus: Die Zeit)