«Kerneuropa»
Gedanken zur europäischen Identität

Von Adolf Muschg

Was ist es, das Europa im Innersten zusammenhält? Leichter fällt es, die notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingungen für einen auch politisch haltbaren Zusammenschluss zu nennen. Der Wurf der Währungsunion verschob das gemeinsame Interesse auf die ökonomische Ebene, wo es sich scheinbar am eindeutigsten dingfest (und messbar) machen lässt. Doch der Wettbewerb um das günstigste Preis-Leistungs-Verhältnis - auf einem weltweiten Markt ohnehin nicht regional zu begrenzen - schafft per se keine Werte, in denen Europäer ihre spezifischen wiedererkennen. Dass «Eigentum verpflichtet», sogar zu Wettbewerbsnachteilen, ist inzwischen eine Maxime von einem andern Stern, und soziale Kosten schlagen schlicht als Defizite zu Buch, die man sich nicht mehr leisten kann. Der «Stabilitätspakt», der die öffentlichen Hände zur Bescheidenheit zwingt, ist inzwischen zum wahren Kriterium der Europafähigkeit geworden. Aber ein Europa, das sich nichts weiter als rechnen muss, verliert seinen Boden als Solidargemeinschaft und hat seinen Mitgliedern, wenn keine Überschüsse mehr zu verteilen sind, keine Kompensationen zu bieten. Rein ökonomisch betrachtet, hat sich inzwischen die Vereinigung der Deutschen als Fehlinvestition erwiesen und den Motor ihrer Wirtschaftskraft ins Stocken gebracht. Dass die Osterweiterung sich für Europa als besseres Geschäft erweise, ist eine kühne Spekulation - und auch politisch wird, wie der Irak-Krieg schonungslos aufgedeckt hat, nicht die erhoffte Idylle daraus.

Spaltungskeime

Denn auch die «Wertegemeinschaft» der vergrösserten Union wird von so unterschiedlichen Prioritäten beherrscht, dass man für ihre Handlungsfähigkeit fürchten muss. Die Mitgift der schwer erkämpften, entsprechend hoch besetzten nationalen Identitäten, welche das «neue Europa» dem «alten» zubringt, steht quer zu dessen historischer Errungenschaft und aktiviert die national-konservativen Spaltungskeime auch in diesem selbst. Das «Nie wieder» eines hundertfünfzigjährigen europäischen Bürgerkriegs gehörte zum Gründungspathos der Römer Verträge, die Sieger und Besiegte des Zweiten Weltkriegs zusammenführten. Auch wenn die Friedensbereitschaft - im Schatten des Kalten Kriegs - keine absolute war, so band sie jedenfalls die Deutschen in eine Allianz ein, die ihr militantes Potenzial für die Nachbarn glaubwürdig neutralisierte. Und niemand machte sich die europäische Integration so beflissen wie die Westdeutschen selbst als Form tätiger Wiedergutmachung zu eigen - herzhafter als die Nato-Mitgliedschaft, die zwar den nötigen Schutz versprach und die Wirtschaft für ihr Nachkriegswunder freistellte, aber den Zwiespalt des Gewissens nicht ruhen liess. Das Doppeltrauma von Kriegsschuld und Holocaust verband sich zu einem Komplex obligatorischer Selbstzensur, der tendenziell nur in der höheren Einheit Europas aufzuheben war. Um des lieben Friedens willen wollte sogar die Teilung Deutschlands in Kauf genommen sein.

Zum Fall der Mauer, zur Implosion des Sowjetreichs habe der «Wandel durch Annäherung» wirksamer beigetragen als die demonstrativ abgelehnte «Nachrüstung»: Das gehörte seit Willy Brandt zu den Glaubenssätzen der deutschen «Ostpolitik», die sich beim Entschärfen historischen Sprengstoffs die äusserste Vorsicht zur Pflicht gemacht hatte. Nachdem das Ziel über alles Erwarten erreicht war, stand die Entdeckung bevor, dass die Uhren der befreiten Länder anders gingen. Überall, wo die ehemaligen Dissidenten an die Macht kamen, stellten sie den Kampf um Menschen- und Bürgerrechte - bis zum Tyrannenmord - über die Gebote kollektiver Friedenssicherung und nahmen dafür, mitten im Beitrittsprozess, eine neue Spaltung der EU in Kauf. Denn auch im Süden von Rumsfelds «altem» Europa stimmten die Regierungen mit dem «neuen» darin überein, dass ein Krieg auch ohne Segen des Völkerrechts führbar, ja geboten und gerecht sein könne. So schuf der anglo-amerikanische Unilateralismus im Irak Tatsachen, die Europa lähmten und den Kriegsgegnerstaaten Frankreich und Deutschland unerwartete Koalitionen bescherten: mit Russland und - in gehörigem Abstand - China.

Nach dem bekannten Ausgang des Krieges scheint die Diskussion, wer sich als «isoliert» zu betrachten habe, entschieden - umso weniger verstummt der Zweifel, wie aus der Europäischen Union je eine Macht werden soll, die mit einer Stimme spricht. Zu gross, um eine politisch stumme Masse zu sein, bleibt sie zu disparat, um ihr Gewicht weltpolitisch in die Waagschale zu werfen. «Der Sinn erweitert, aber lähmt; die Tat belebt, aber beschränkt», heisst es in «Wilhelm Meisters Lehrjahren». Dass Europäer Bushs neue Weltordnung «beschränkt» finden, entschädigt sie nicht dafür, dass der «Sinn» Europas sich nicht zum politischen Gemeinsinn verdichten will. Der Verfassungskonvent Giscard d'Estaings in Brüssel greift so lange nicht, als ihn die reale Verfassung der Europäer in der Luft hängen lässt. Wenn aber der kleinste gemeinsame Nenner Europas nicht die Ökonomie sein kann und der grösste - die Kultur - bestenfalls gemalt am Himmel der Festreden steht: Worauf soll sich die Einheit Europas gründen lassen?

Es ergeht einem mit Europa wie dem Kirchenvater Augustinus mit der Zeit: Solange er nicht gefragt werde, was sie sei, wisse er es; werde er aber gefragt, wisse er es nicht. Dabei könnte die Antwort einfach lauten: Europa ist eine Tatsache, die dadurch wird, dass man sie schafft. Mit dem - einem Schweizer nicht unvertrauten - Zusatz: dass man sie will. Fraglos ist Europa nur als Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft - mit der Besonderheit, dass es Erinnerungen sind, die uns gründlich genug trennen mussten, bevor sie uns verbanden, und dass die Erfahrungen solche von Gegensätzen waren, die unüberwindlich schienen. Und doch wurden sie überwunden, aber nicht von Berechnenden, sondern von Erschütterten.

Für mich als schweizerischen Europäer bleibt die deutsch-französische Versöhnung das noch immer solidere Wunder als das Ende des Kalten Kriegs. Der Kern des alten Europa ist ein Riss, der zum Grundriss eines neuen wurde. Mitten auf historischen Schlachtfeldern sind, von Brüssel über Luxemburg bis Strassburg, die EU-Hauptstädte angesiedelt wie Klammern über einer Wunde, die sich nie mehr öffnen soll. Dieses Kerneuropa hat Frieden mit sich selbst schliessen gelernt, à tout prix: Denn der Preis, der dafür bezahlt wurde, bleibt eine immerwährende Verpflichtung Europas und zu Europa.

Kern-Errungenschaft

Dieser exemplarischen Heilung wünscht man sich Modellcharakter auch für die Zuschüttung der Gräben, den Zurückbau der Mauern an der - in mehr als einem Sinn weit offenen - Ostgrenze Europas. Aber da das Wünschen nicht hilft, darf die Kohäsion Kerneuropas - und damit sein ideeller «Acquis communautaire» - nicht beliebig strapaziert werden. Was im Westen an Zivilisation der politischen Sitten erreicht wurde, muss unveräusserlich bleiben. Und im Grenzfall - den kein Europäer wünschen kann - ist der Rückzug auf das Gefäss geboten, in dem ein singulärer historischer Wille die weitgehende Überwindung des nationalen Idiotismus - right or wrong, my country - erreicht hat. Sie bleibt die (keineswegs unverlierbare) Kern-Errungenschaft des kommenden Europa. Die Spur des Eisernen Vorhangs schreckt noch immer, auch wenn die unmenschlichen Grenzbefestigungen abgerissen sind. Dass die vom Totalitarismus geschlagenen Wunden infektiös bleiben, beweist die Ausbreitung der nationalistisch-populistischen Reaktion auf beiden Seiten der überwundenen Grenze. Mit dem Auftauen der alten Blöcke schwindet auch die Anästhesie, mit der die ihrer Logik Unterworfenen zwanghaft ruhiggestellt waren und ihre Nationalität unsichtbar wurde: Jetzt verlangt diese gebieterisch ihre Rechte «zurück». Und wenn es historisch wahr ist und kulturell wahr bleiben muss, dass Europa von seinen Widersprüchen lebt: Mit rücksichtslosem Widerspruch kann das politische Europa nicht leben und muss sich dagegen auch institutionell vorsehen. Weil es so kostbar ist, was die Europäer zur Uneinigkeit miteinander und mit sich selbst befähigt, muss es tragbar bleiben und aufgehoben sein in einer handlungsfähigen bundesstaatlichen Gestalt.

In mancher Hinsicht gleicht der europäische Prozess heute demjenigen, welchen die Schweiz zwischen dem Wiener Kongress 1818 und 1848 durchgemacht hat. 22 eigensinnige Gemeinwesen, jedes in sich politisch labil, kaum eines ohne Wechsel des politischen Lagers, rauften sich zusammen, um die Frucht ihrer - übrigens immer auch «europäisch» definierten - Differenzen in Gestalt einer Konföderation zu ernten. Die neuen Bundesbehörden waren sich bewusst, dass sie ein Staatswesen aus lauter Minderheiten zugleich zu regieren und im Innern zu versöhnen hatten. Dabei geniesst die EU zwei Vorzüge nicht, die dem schweizerischen Einigungsprozess damals zustatten kamen: machtpolitische Geringfügigkeit und die Verpflichtung zu aussenpolitischer Neutralität. Ein Global Player wie die EU kann sich nicht verstecken; aber er wird, durch eigene Widersprüche gewitzigt und gewarnt, ein besonderes Sensorium für die Widersprüche anderer entwickeln müssen. Wenn er von den USA nicht «siegen lernt», so weil er hat lernen müssen, den Preis von Siegen zu bedenken. «Noch ein solcher Sieg, und ich bin verloren», sagte der antike König Pyrrhus; die Europäer haben auch ihre Siege so teuer bezahlt, dass sie den vermeintlich letzten nicht mehr zu «gewinnen» bereit sind. Ihre Erfahrung sagt ihnen, dass der «Krieg gegen den Terrorismus» heute mehr Feinde erzeugt, als er überwinden kann, und damit selbst zu den Übeln gezählt werden muss, die er auszurotten behauptet. Die Kreuzzüge der Vergangenheit sind von Europa ausgegangen, darum ist es dafür nicht mehr zu haben. Aber auch um ihnen zu steuern, wird es noch Soldaten brauchen - radikaler Pazifismus wäre alles andere als eine Friedensgarantie. Die Einheit der Schweiz im 19. Jahrhundert wurde durch ihre Milizarmee wirksamer als durch patriotische Rhetorik geschaffen; und die Aussenpolitik Europas wird ein Gesicht nötig haben wie dasjenige Joschka Fischers, dessen Biographie Gewähr dafür bietet, dass die jeweils andere Seite gehört wird und dass «Viel Feind, viel Ehr» als Maxime Europas ausgedient hat.

Schicksalsgemeinschaft

Was Europa zusammenhält und was es trennt, ist im Kern eines: das gemeinsame Gedächtnis, und die Schritt für Schritt erworbene Gewohnheit, sich von fatalen Gewohnheiten zu entfernen. Europa ist das, was Europa wird. Es ist weder das Abendland noch die Wiege der Zivilisation, es hat kein Monopol auf Wissenschaft, Aufklärung und Moderne. Anders als in der Erfahrung soll es seine Identität gar nicht zu begründen suchen, denn jede, die es für sich allein reserviert, verfällt zwangsläufig jener verblendeten Anmassung, mit der es im 19. Jahrhundert die Welt zu repräsentieren glaubte und zu beherrschen strebte. Seine Grenzen sollen keine anderen sein als diejenigen, an die es ungesucht stösst, wenn es sich selbst zivilisiert. Und auch auf diese Grenzen muss es nicht empfindlich reagieren, sondern - zum ersten Mal in seiner Geschichte - als Ganzes sensibel.

Ein verschwiegenes Pathos ist dem Projekt darum nicht verboten. Warum sollen sich Europäer die Freude daran weniger gönnen als Schweizer diejenige an ihrer eigenen Vielfalt? Eine Föderation Europa ist nicht nur ein Novum im Universum der Menschheitsgeschichte: Dass sie noch nie da gewesen ist, bleibt nicht weniger eine Quelle der Vorsicht und Nachdenklichkeit als der Inspiration. Europa muss in seiner Organisation so findig sein wie das Leben selbst, das die moderne Biowissenschaft nicht mehr als einen gezielten Prozess, als natürliches Gegenstück der Heilsgeschichte versteht, sondern als Patchwork, als tägliche Gleichgewichtssuche in einer ihrerseits beweglichen Nische: eine Art fortgesetztes Spiel von Frage und Antwort an eine zugleich bedrohliche und rettende «globalisierte» Umwelt. So werden alle europäischen Organe - Haupt und Glieder, «Brüssel» und die alten Nationalstaaten - zu Trägern eines Prozesses intelligenter Selbstformation. Diesem Europa braucht es um seine Identität schon darum nicht bange zu sein, weil sie nur als Produkt politischer Ökologie nach innen denkbar ist und auf die - immer faule - Identitätspropaganda verzichten kann. Europa darf sich mit dem Tatbeweis seiner zivilen Existenz begnügen: auch das ein historisches Novum erster Güte.

Um es melodramatisch zu sagen: Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft. Die antike Stoa kannte das Konzept des Amor Fati, der «Liebe zum Schicksal»; bequem war sie nie, darum aber keineswegs tatenlos. Um Europa zu bauen, muss man es nicht lieben. Aber man darf.

Neue Zürcher Zeitung, 31. Mai 2003.

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