Verschließen wir nicht die Augen vor der Revolution der Weltordnung: Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern

Von Jürgen Habermas

Die ganze Welt hat jene Szene am 9. April in Bagdad beobachtet, hat verfolgt, wie amerikanische Soldaten dem Diktator die Schlinge um den Hals legen und ihn unter dem Jubel der Menge symbolträchtig vom Sockel stürzen. Erst wankt das scheinbar unerschütterliche Monument, dann fällt es. Bevor es befreiend zu Boden rast, muß die Schwerkraft die grotesk-unnatürliche Stellung in der horizontalen Schwebe überwinden, in der die massive Figur, leicht auf und ab wippend, für eine Sekunde des Schreckens doch noch verharrt.

Wie die Gestaltwahrnehmung eines Vexierbildes "umkippt", so scheint sich die öffentliche Wahrnehmung des Krieges mit dieser Szene zu verkehren. Die moralisch obszöne Verbreitung von Schock und Schrecken unter einer unnachsichtig bombardierten, ausgemergelt-wehrlosen Bevölkerung verwandelt sich an diesem Tage im Schiitenviertel von Bagdad in die enthusiastisch begrüßte Befreiung der Bürger von Terror und Unterdrückung. Beide Wahrnehmungen enthalten ein Moment der Wahrheit, auch wenn sie widerstreitende moralische Gefühle und Stellungnahmen hervorrufen. Muß die Ambivalenz der Gefühle zu kontradiktorischen Urteilen führen?

Auf den ersten Blick ist die Sache einfach. Ein illegaler Krieg bleibt ein völkerrechtswidriger Akt, auch wenn er zu Erfolgen führt, die normativ erwünscht sind. Aber ist das die ganze Geschichte? Schlechte Konsequenzen können eine gute Absicht delegitimieren. Können gute Konsequenzen nicht doch eine nachträglich legitimierende Kraft entfalten? Die Massengräber, die unterirdischen Verliese und die Berichte der Gefolterten lassen über die kriminelle Natur des Regimes keinen Zweifel; und die Befreiung einer gequälten Bevölkerung von einem barbarischen Regime ist ein hohes Gut, das höchste unter den politisch erstrebenswerten Gütern. Insofern fällen auch die Iraker, ob sie nun jubeln, plündern, apathisch verharren oder gegen die Besatzer demonstrieren, ein Urteil über die moralische Natur des Krieges.

Bei uns zeichnen sich in der politischen Öffentlichkeit zwei Reaktionen ab. Die Pragmatiker glauben an die normative Kraft des Faktischen und verlassen sich auf eine praktische Urteilskraft, die mit dem Augenmaß für die politischen Grenzen der Moral die Frucht des Sieges würdigt. In ihren Augen ist das Räsonnement über die Berechtigung des Krieges fruchtlos, weil er inzwischen zur historischen Tatsache geworden ist. Die anderen, ob sie nun aus Opportunismus oder aus Überzeugung vor der Kraft des Faktischen kapitulieren, schieben, was sie nun für völkerrechtlichen Dogmatismus halten, mit der Begründung beiseite, daß er aus lauter postheroischer Zimperlichkeit gegen Risiken und Kosten militärischer Gewalt vor der politischen Freiheit als dem wahren Wert die Augen verschließt.

Beide Reaktionen greifen zu kurz, weil sie dem Affekt gegen die vermeintlichen Abstraktionen eines "blutleeren Moralismus" nachgeben, ohne sich die Alternative klarzumachen, die die Neokonservativen in Washington zur völkerrechtlichen Domestizierung staatlicher Gewalt anbieten. Diese setzen nämlich der Moral des Völkerrechts weder Realismus noch Freiheitspathos, sondern eine revolutionäre Sicht entgegen: Wenn das Völkerrechtsregime versagt, ist die politisch erfolgreichere hegemoniale Durchsetzung einer liberalen Weltordnung auch dann moralisch gerechtfertigt, wenn sie sich völkerrechtswidriger Mittel bedient. Wolfowitz ist nicht Kissinger. Er ist eher Revolutionär als Machtzyniker. Gewiß, die Supermacht behält sich vor, unilateral zu handeln und erforderlichenfalls auch präventiv alle verfügbaren militärischen Mittel einzusetzen, um ihre hegemoniale Stellung gegenüber möglichen Rivalen zu befestigen. Aber die globale Machtambition ist für die neuen Ideologen kein Selbstzweck. Was die Neokonservativen von der Schule der "Realisten" unterscheidet, ist die Vision einer amerikanischen Weltordnungspolitik, die aus den reformistischen Gleisen der UN-Menschenrechtspolitik herausspringt. Sie verrät nicht die liberalen Ziele, aber sie sprengt die zivilisierenden Fesseln, die die Verfassung der Vereinten Nationen aus guten Gründen dem Prozeß der Zielverwirklichung anlegt.

Gewiß ist die Weltorganisation heute noch nicht in der Lage, abweichende Mitgliedstaaten zu nötigen, ihren Bürgern eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung zu garantieren. Und die höchst selektiv verfolgte Menschenrechtspolitik steht unter dem Vorbehalt des Möglichen: Die Vetomacht Rußland braucht eine bewaffnete Intervention in Tschetschenien nicht zu befürchten. Saddam Husseins Einsatz von Nervengas gegen die eigene kurdische Bevölkerung ist nur einer von vielen Fällen in der skandalösen Chronik des Versagens einer Staatengemeinschaft, die selbst bei Genoziden wegschaut. Um so wichtiger ist deshalb die Kernfunktion der Friedenssicherung, aus der sich die Existenz der Vereinten Nationen begründet - also die Durchsetzung des Verbots von Angriffskriegen, mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg das ius ad bellum abgeschafft und die Souveränität der Einzelstaaten eingeschränkt worden ist.

Damit hat das klassische Völkerrecht wenigstens einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem kosmopolitischen Rechtszustand getan. Die Vereinigten Staaten, die ein halbes Jahrhundert als Schrittmacher auf diesem Weg gelten durften, haben mit dem Irak-Krieg nicht nur diesen Ruf zerstört und die Rolle einer Garantiemacht des internationalen Rechts aufgegeben; mit ihrem völkerrechtswidrigen Vorgehen geben sie künftigen Supermächten ein verheerendes Beispiel. Machen wir uns nichts vor: die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern.

Keine der beiden Bedingungen für einen rechtlich legitimierten Einsatz militärischer Gewalt war erfüllt: nicht die Situation der Selbstverteidigung gegen einen aktuellen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff, kein autorisierender Beschluß des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta. Weder die Resolution 1441 noch eine der siebzehn vorangehenden (und "verbrauchten") Irak-Resolutionen dürfen als hinreichende Autorisierung gelten. Die Fraktion der Kriegswilligen hat das übrigens performativ dadurch bekräftigt, daß sie erst eine "zweite" Resolution angestrebt, dann aber einen entsprechenden Antrag nur deshalb nicht zur Abstimmung gebracht hat, weil sie nicht einmal mit einer "moralischen" Mehrheit der nichtvetoberechtigten Mitglieder rechnen durfte.

Schließlich wurde das ganze Verfahren dadurch zur Farce, daß der Präsident der Vereinigten Staaten wiederholt erklärte, gegebenenfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates zu handeln. Im Lichte der Bush-Doktrin fehlte dem Aufmarsch des Militärs am Golf von Anbeginn der Charakter einer bloßen Drohung. Diese hätte die Abwendbarkeit der angedrohten Sanktionen vorausgesetzt.

Auch der Vergleich mit der Kosovo-Intervention liefert keine Entlastung. Zwar war auch in diesem Fall eine Autorisierung durch den Sicherheitsrat nicht zu erreichen. Aber die nachträglich eingeholte Legitimation konnte sich auf drei Umstände stützen: auf die Verhinderung einer (nach damaligem Kenntnisstand) in Gang befindlichen ethnischen Säuberung, auf das für diesen Fall erga omnes geltende völkerrechtliche Gebot der Nothilfe sowie auf den unbestritten demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter aller Mitgliedstaaten des ersatzweise handelnden Militärbündnisses. Heute spaltet der normative Dissens den Westen selbst. Freilich hat sich schon damals, im April 1999, zwischen den kontinentaleuropäischen und den angelsächsischen Mächten eine bemerkenswerte Differenz in den Rechtfertigungsstrategien abgezeichnet. Während die eine Seite aus dem Desaster von Srebrenica die Lehre zog, mit der bewaffneten Intervention die bei früheren Einsätzen geöffnete Schere Effektivität und Legitimation zu schließen, um so auf dem Wege zum voll institutionalisierten Weltbürgerrecht voranzukommen, gab sich die andere Seite mit dem Ziel zufrieden, die eigene liberale Ordnung auch andernorts, wenn nötig mit Gewalt, zu verbreiten.

Seinerzeit habe ich diese Differenz verschiedenen Traditionen des Rechtsdenkens zugerechnet - Kants Kosmopolitismus auf der einen, John Stuart Mills liberalem Nationalismus auf der anderen Seite. Aber im Lichte des hegemonialen Unilateralismus, den die Vordenker der Bush-Doktrin seit 1991 verfolgen, wie Stefan Fröhlich in dieser Zeitung am 10. April dargelegt hat, könnte man rückblickend vermuten, daß die amerikanische Delegation schon die Verhandlungen von Rambouillet aus diesem originellen Blickwinkel geführt hat.

Wie dem auch sei, der Entschluß von George W. Bush, den Sicherheitsrat zu konsultieren, ist nicht mehr dem Wunsch nach einer intern längst für überflüssig gehaltenen völkerrechtlichen Legitimation entsprungen. Diese Rückendeckung war nur erwünscht, weil sie die Grundlage für die "Koalition der Willigen" verbreitert und Bedenken in der eigenen Bevölkerung zerstreut hätte. Gleichwohl dürfen wir die neue Doktrin nicht als Ausdruck eines normativen Zynismus verstehen. Funktionen wie die geostrategische Sicherung von Machtsphären und Ressourcen, die eine solche Politik auch erfüllen soll, mögen eine ideologiekritische Betrachtung aufdrängen. Aber diese konventionellen Erklärungen trivialisieren den noch vor anderthalb Jahren unvorstellbaren Bruch mit Normen, denen die Vereinigten Staaten bisher verpflichtet waren. Wir tun gut daran, uns nicht mit Motivzuschreibungen aufzuhalten, sondern die neue Doktrin beim Wort zu nehmen. Sonst verkennen wir den revolutionären Charakter einer Umorientierung, die sich aus den historischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts speist.

Der Historiker Eric Hobsbawm hat das zwanzigste Jahrhundert zu Recht "das amerikanische" genannt. Die Neokonservativen können sich als "Sieger" verstehen und sich die unstrittigen Erfolge - die Neuordnung Europas und des pazifisch-südostasiatischen Raums nach der Niederlage Deutschlands und Japans sowie die Umgestaltung ost- und ostmitteleuropäischer Gesellschaften nach dem Zerfall der Sowjetunion - zum Vorbild nehmen für eine neue Weltordnung. Aus der Sicht eines liberalistisch gedeuteten Posthistoire à la Fukuyama hat dieses Modell den Vorteil, die umständliche Erörterung normativer Ziele zu erübrigen: Was könnte den Leuten Besseres passieren als die weltweite Ausbreitung liberaler Staaten und die Globalisierung freier Märkte? Auch der Weg dahin ist klar: Deutschland, Japan und Rußland sind durch Krieg und Hochrüstung in die Knie gezwungen worden. Militärische Gewalt bietet sich heute um so eher an, als in asymmetrischen Kriegen der Sieger a priori feststeht. Kriege, die die Welt verbessern, brauchen keine weitere Rechtfertigung. Um den Preis vernachlässigenswerter Kollateralschäden beseitigen sie unzweideutige Übel, die unter der Ägide einer kraftlosen Staatengemeinschaft fortbestehen würden. Der vom Sockel stürzende Saddam ist das Argument, das zur Rechtfertigung ausreicht.

Diese Doktrin ist lange vor dem Terrorangriff auf die Twin-Towers entwickelt worden. Die klug in Regie genommene Massenpsychologie des Schocks vom 11. September hat allerdings erst das Klima geschaffen, in dem die Lehre breiten Anklang finden konnte - allerdings in einer etwas anderen, auf den "Krieg gegen den Terrorismus" zugespitzten Version. Die Zuspitzung zur Bush-Doktrin verdankt sich der Definition eines neuartigen Phänomens in den vertrauten Begriffen konventioneller Kriegführung. Im Falle des Taliban-Regimes bestand zwischen dem ungreifbaren Terrorismus und einem angreifbaren "Schurkenstaat" tatsächlich ein kausaler Zusammenhang. Nach diesem Muster kann man mit der klassischen Operation des Staatenkrieges auch jener heimtückischen Gefahr, die von diffusen und weltweit operierenden Netzwerken ausgeht, den Boden entziehen. Gegenüber der ursprünglichen Version bringt diese Verknüpfung des hegemonialen Unilateralismus mit der Abwehr einer schleichenden Bedrohung das Argument der Selbstverteidigung ins Spiel. Allerdings stürzt sie auch in neue Beweisnöte. Die amerikanische Regierung mußte versuchen, die Weltöffentlichkeit von Kontakten zwischen Saddam Hussein und Al Qaida zu überzeugen. Diese Desinformationskampagne war im eigenen Lande immerhin so erfolgreich, daß nach letzten Umfragen 60 Prozent der Amerikaner den Regimewechsel im Irak als "Sühne" für den Terrorakt vom 11. September begrüßen.

Aber für den präventiven Einsatz militärischer Mittel liefert die Bush-Doktrin nicht wirklich eine plausible Erklärung. Weil sich die nichtstaatliche Gewalt der Terroristen - der "Krieg im Frieden" - den Kategorien des Staatenkrieges entzieht, begründet sie keineswegs die Notwendigkeit, die völkerrechtlich strikt geregelte staatliche Notwehr im Sinne einer antizipierten kriegerischen Selbstverteidigung aufzuweichen. Gegen die global vernetzten, dezentralisiert und unsichtbar operierenden Feinde hilft nur eine Prävention auf anderer operativer Ebene. Hier helfen keine Bomben und Raketen, keine Flugzeuge und Panzer, sondern die internationale Vernetzung staatlicher Nachrichtendienste und Strafverfolgungsbehörden, die Kontrolle von Geldströmen, überhaupt das Aufspüren logistischer Verbindungen. Die entsprechenden "Sicherheitsprogramme" berühren nicht das Völkerrecht, sondern die staatlich garantierten Bürgerrechte.

Andere Gefahren, die aus dem selbstverschuldeten Scheitern einer Politik der Nicht-Verbreitung von ABC-Waffen erwachsen, sind ohnehin durch Verhandlungen eher zu bewältigen als durch Abrüstungskriege - wie die zurückhaltende Reaktion auf Nordkorea zeigt. Die auf Terrorismus zugespitzte Doktrin bietet also gegenüber dem direkt verfolgten Ziel einer hegemonialen Weltordnung keinen Legitimationsgewinn. Der vom Sockel stürzende Saddam bleibt das Argument - Symbol für die liberale Neuordnung einer ganzen Region. Der Irak-Krieg ist Glied in der Kette einer Weltordnungspolitik, die sich dadurch rechtfertigt, daß sie an die Stelle der vergeblichen Menschenrechtspolitik einer verbrauchten Weltorganisation tritt. Die Vereinigten Staaten übernehmen gleichsam treuhänderisch die Rolle, in der die UN versagt haben. Was spricht dagegen?

Moralische Gefühle können in die Irre führen, weil sie an einzelne Szenen, einzelnen Bildern haften. An der Frage der Rechtfertigung des Krieges im ganzen führt kein Weg vorbei. Der entscheidende Dissens besteht in der Frage, ob der völkerrechtliche Kontext der Rechtfertigung durch den der unilateralen Weltordnungspolitik eines sich selbst ermächtigenden Hegemons ersetzt werden kann und darf.

Die empirischen Einwände gegen die Durchführbarkeit der amerikanischen Vision laufen darauf hinaus, daß die Weltgesellschaft zu komplex geworden ist, um noch von einem Zentrum aus mit Mitteln einer auf militärische Gewalt gestützten Politik gesteuert zu werden. In der Angst der technologisch hochgerüsteten Supermacht vor dem Terror scheint sich die cartesische Angst eines Subjekts zu verdichten, das sich selbst und die Welt ringsum zum Objekt zu machen versucht, um alles unter Kontrolle zu bringen. Die Politik gerät gegenüber den horizontal vernetzenden Medien des Marktes wie der Kommunikation ins Hintertreffen, wenn sie sich zur hobbistischen Ursprungsgestalt eines hierarchischen Sicherheitssystems zurückbildet. Ein Staat, der alle Optionen auf die dumme Alternative von Krieg oder Frieden bezieht, stößt bald an Grenzen der eigenen Organisationsfähigkeiten und Ressourcen. Er lenkt auch die Verständigung mit konkurrierenden Mächten und fremden Kulturen in falsche Kanäle und treibt die Koordinationskosten in schwindelnde Höhen.

Selbst wenn der hegemoniale Unilateralismus machbar wäre, hätte er jedoch Nebenfolgen, die nach den eigenen Maßstäben normativ unerwünscht sind. Je mehr sich die politische Macht in den Dimensionen von Militär, Geheimdienst und Polizei zur Geltung bringt, desto eher fällt sie sich selbst - der Politik in der Rolle einer weltweit zivilisierenden Gestaltungsmacht - in den Arm, gefährdet sie die Mission, die Welt nach liberalen Vorstellungen zu verbessern. In den Vereinigten Staaten selbst unterminiert das auf Dauer gestellte Regime eines "Kriegspräsidenten" schon heute die Grundlagen des Rechtsstaates. Ganz abgesehen von den außerhalb der Landesgrenzen praktizierten oder geduldeten Foltermethoden, beraubt das Kriegsregime nicht nur die Häftlinge in Guantánamo der Rechte, die ihnen nach der Genfer Konvention zustehen. Es räumt den Sicherheitsbehörden Handlungsspielräume ein, die die verfassungsmäßigen Rechte der eigenen Bürger einschränken.

Und würde die Bush-Doktrin nicht erst recht kontraproduktive Maßnahmen für den nicht unwahrscheinlichen Fall fordern, daß die Bürger in Syrien, Jordanien, Kuweit und so weiter von den demokratischen Freiheiten, die ihnen die amerikanische Regierung bescheren will, einen unfreundlichen Gebrauch machten? 1991 haben die Amerikaner Kuweit befreit, demokratisiert haben sie es nicht. Vor allem stößt aber die angemaßte Treuhänderrolle der Supermacht auf den Widerspruch von Bündnispartnern, die aus guten normativen Gründen vom unilateralen Führungsanspruch nicht überzeugt sind. Einst sah sich der liberale Nationalismus dazu berechtigt, die universalen Werte der eigenen liberalen Ordnung nötigenfalls auch mit militärischer Unterstützung in aller Welt zu verbreiten. Diese Selbstgerechtigkeit wird auch dadurch, daß sie vom Nationalstaat auf eine hegemoniale Macht übergeht, nicht erträglicher.

Es ist gerade der universalistische Kern von Demokratie und Menschenrechten, der ihre unilaterale Durchsetzung mit Feuer und Schwert verbietet. Der universalistische Geltungsanspruch, den der Westen mit seinen "politischen Grundwerten", also mit dem Verfahren der demokratischen Selbstbestimmung und dem Vokabular der Menschenrechte verbindet, darf nicht mit dem imperialen Anspruch verwechselt werden, daß die politische Lebensform und Kultur einer bestimmten, und sei es der ältesten Demokratie, für alle Gesellschaften exemplarisch ist. Von dieser Art war der "Universalismus" jener alten Reiche, welche die Welt jenseits ihrer am Horizont verschwimmenden Grenzen aus der Zentralperspektive der eigenen Weltbilder wahrgenommen haben. Das moderne Selbstverständnis ist hingegen durch einen egalitären Universalismus geprägt, der zur Dezentrierung der jeweils eigenen Perspektive anhält; er nötigt dazu, die eigene Sicht an den Deutungsperspektiven der gleichberechtigten anderen zu entrelativieren.

Gerade der amerikanische Pragmatismus hat die Einsicht in das, was für alle Parteien gleichermaßen gut oder gerecht ist, von gegenseitiger Perspektivenübernahme abhängig gemacht. Die Vernunft des modernen Vernunftrechts bringt sich nicht in universalen "Werten" zur Geltung, die man wie Güter in Besitz nehmen, global verteilen und exportieren könnte. "Werte" - auch die, die auf globale Anerkennung rechnen dürfen - hängen nicht in der Luft, sondern erlangen Verbindlichkeit nur in den normativen Ordnungen und Praktiken bestimmter kultureller Lebensformen.

Wenn in Nassirija Tausende von Schiiten gegen Saddam und die amerikanische Besatzung demonstrieren, bringen sie auch zum Ausdruck, daß sich nichtwestliche Kulturen den universalistischen Gehalt der Menschenrechte aus ihren eigenen Ressourcen und in einer Lesart aneignen müssen, die zu lokalen Erfahrungen und Interessen eine überzeugende Verbindung herstellt. Deshalb ist auch in zwischenstaatlichen Beziehungen die multilaterale Willensbildung nicht nur eine Option unter anderen. In seiner selbstgewählten Isolierung könnte selbst der gute Hegemon, der sich zum Treuhänder allgemeiner Interessen aufwirft, gar nicht wissen, ob das, was er im Interesse anderer zu tun behauptet, tatsächlich für alle gleichermaßen gut ist. Zur kosmopolitischen Fortentwicklung eines Völkerrechts, das den Stimmen aller Betroffenen gleichmäßig und gegenseitig Gehör verschafft, gibt es keine sinnvolle Alternative.

Die Weltorganisation hat bisher keinen größeren Schaden erfahren. Sie hat dadurch, daß die "kleinen" Mitglieder des Sicherheitsrats den Pressionen der Großen nicht nachgegeben haben, sogar an Ansehen und Einfluß gewonnen. Die Reputation der Weltorganisation kann nur durch ihr eigenes Verschulden beschädigt werden: wenn sie versuchen sollte, durch Kompromiß zu "heilen", was nicht zu heilen ist.

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