Die Geister des Pralinengipfels

Sieben Intellektuelle, darunter Umberto Eco, Adolf Muschg und Jürgen Habermas, plädieren für ein neues Selbstbewusstsein der Europäer. Ihre Aufrufe richten sich gegen die Vorherrschaft der USA. Aber ihre Argumente greifen politisch zu kurz. Europa muss mehr aufbieten als nur eine überlegene Moral

Von Jan Ross

Ist dies die Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit? Mobilisiert von Jürgen Habermas, haben am vergangenen Wochenende in einem halben Dutzend Tageszeitungen Intellektuelle zum Stand der Dinge auf dem Kontinent Stellung genommen: Habermas selbst unter Mitzeichnung seines langjährigen philosophischen Kontrahenten Jacques Derrida in der FAZ und der Pariser Libération, die Schriftsteller Adolf Muschg und Umberto Eco in der Neuen Zürcher und in La Repubblica, die Philosophen Gianni Vattimo, Fernando Savater und Richard Rorty in La Stampa, El País und Süddeutscher Zeitung.

Die Inszenierung war spektakulär, und dramatisch ist auch die Analyse, die dahinter steht: Nach dem Irak-Krieg und in der Schlussphase von Giscards Verfassungskonvent präsentiert sich Europa schwach und uneinig, auf der Weltbühne an den Rand gedrängt durch die kraftstrotzenden und alleingängerischen Vereinigten Staaten, innerlich zerrissen zwischen dem alten deutsch-französischen Einigungszentrum und den Amerika-Freunden wie Großbritannien und Polen. Mit der Debatte über Europa zugleich eine europäische Debatte vorzuführen, in der grenzüberschreitenden, vielsprachigen Suche nach dem „Wir“ schon die Existenz dieses „Wir“ zu belegen – das ist ein ideenpolitisches Meisterstück, und man kann nicht anders, als vor Jürgen Habermas’ Geistesgegenwart, seinem Organisationstalent und seinem Berufsethos als öffentlichem Intellektuellen den Hut zu ziehen.

Wie aber steht es um die Ideen dieser Ideenpolitik? Habermas und seine Kombattanten (Nuancen gibt es, davon später, doch der Impuls und das Projekt sind gemeinsam) propagieren „Kerneuropa“, die verstärkte Zusammenarbeit einer integrationswilligen Staaten-Avantgarde, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist, unfreundlich gesagt, die Ideologie zum „Pralinengipfel“, die hier geliefert wird, zur nachkriegsgrollenden Verbrüderung von Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg; auch Italien, ohne Berlusconi, wäre in diesem Kreis vorstellbar und willkommen. Es wirkt nicht recht überzeugend, wenn ein solcher Kern angeblich keinen ausschließenden und verhärtenden Charakter haben soll, wenn er als vorläufig, einladend und anziehend für den Rest des Kontinents dargestellt wird. Gegenwärtig zumindest wäre „Kerneuropa“ nichts anderes als eine Kampfansage, an die Vereinigten Staaten wie an ihre britischen oder polnischen Bundesgenossen; die vorerst latente und halb ausgesprochene Spaltung würde manifest und dauerhaft.

„Was ist europäisch?“ lautet die Leitfrage des ganzen Unternehmens, und die Antwort heißt, mehr oder weniger deutlich: was nicht amerikanisch ist. Jürgen Habermas trägt seine Elemente einer europäischen Identität mit einiger Sorgsamkeit zusammen: Säkularisierung, sozialer Ausgleich, Ökologie und Technikskepsis, Abkehr vom Recht des Stärkeren, im Zweifel etwas mehr Staat als Markt. Innerlich spricht der Leser bei jedem Posten mit: „Im Gegensatz zu George W. Bush.“ Habermas weiß und sagt, dass die fundamentalen europäischen Werte nicht exklusiv europäisch sind, sondern westlich und letztlich universal; er hat in Richard Rorty auch einen Amerikaner mit im Boot, einen Denker der Linken, der sich von einem selbstbewussten, eigenständigen Europa Hilfe für das andere, bessere, eigentliche Amerika erhofft.

Ganz frei von Ressentiment gegen die Vereinigten Staaten bleibt der Beitrag des wie immer souveränen Umberto Eco. Was er für Europa fürchtet, wenn es sich nicht enger zusammenschließt, ist weniger die äußere Machtlosigkeit als der innere Verfall im Dahindümpeln, und bei einer integrierten Außen- und Sicherheitspolitik hat er konkrete Interventionen im spezifisch europäischen Interesse im Blick, für die sich die Nato nicht immer eignen mag. So bestimmt Eco auch die europäischen Gemeinsamkeiten angenehm lebensnah und geschichtsgesättigt, in den Kriegserinnerungen des 20. Jahrhunderts, im plötzlich spürbaren Verwandtschaftsgefühl von Touristen oder Konferenzteilnehmern in Übersee. Amerika ist aus dieser gelassenen Perspektive nicht feindlich, auch nicht „das Andere“, sondern einfach anders.

Das lernschwache Osteuropa

In Habermas’ Gesamtprogramm jedoch gibt der Gegensatz zu den Vereinigten Staaten das Hauptkriterium europäischer Selbstdefinition ab. Der Turiner Philosoph Gianni Vattimo, der auch Mitglied im EU-Parlament ist, macht den Ärger über Bush und seine Leute recht klar als Triebkraft hinter der Identitätssuche kenntlich und spricht den bösen Namen „Rumsfeld“ aus; am Ende landet er bei der Aussicht, dass die Europäer in der Konfrontation mit Amerika „eine andere Vision von Existenz, einen anderen Begriff vom ,guten Leben‘, ein anderes existenzielles Projekt“ entdecken würden. Die Geburt Europas aus der Kränkung durch ein weltbekanntes Washingtoner Schandmaul.

Es kann gerade Habermas eigentlich nicht behagen, aber das Gemisch, das hier vorliegt, politische Auseinandersetzungen, die zum Teil aus Prinzipienkonflikten hervorgehen, dann aber vor allem ins Prinzipielle, Weltanschauliche, Daseinsmäßige hochgetrieben werden – diese Mixtur und Dynamik sind historisch nicht unbekannt. Es ist die Entstehungsdynamik des Nationalismus. Es gibt offenbar, katalysiert durch die neue amerikanische Wucht, einen Euro-Nationalismus oder zumindest das Bedürfnis danach. Man fragt sich, woher das Vertrauen in die Unschädlichkeit solcher Stolz- und Eigenheitsproklamationen stammt, wo doch der innereuropäische Nationalismus derartige Verwüstungen angerichtet hat. Ist es wirklich so viel anders und besser, wenn statt der Tugenden des Deutsch-, Französisch- oder Italienischseins nun die Vorzüge des Europäertums angepriesen und mit Weltgeltung ausgestattet werden sollen?

„Europa“, mit seiner entgiftenden und versöhnenden Erfolgsgeschichte seit den späten vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, scheint in den Augen vieler per se über jeden Zweifel erhaben zu sein; was diesem Projekt dient, was in seinem Namen und Interesse geschieht, das ist wohl getan, da leuchten keine Warnlampen. Besonders wirkt „Europa“ wie das letzte Credo, das der europäischen Linken geblieben ist, nachdem sie vom Sozialismus hat Abschied nehmen müssen. Ein bisschen sozialistisch kann man immerhin im Kontrast zu den Vereinigten Staaten noch auftreten, wo bekanntlich der nackte Kapitalismus herrscht. Und sogar ein wenig klassischer Aufklärungs- und Fortschrittsglaube mag zu revitalisieren sein, wenn es gegen George W. Bushs christliche Bigotterie geht. „In unseren Breiten“, notiert Jürgen Habermas im schönsten Progressivitätsstolz, „ist ein Präsident, der seine täglichen Amtsgeschäfte mit öffentlichem Gebet beginnt und seine folgenreichen politischen Entscheidungen mit einer göttlichen Mission in Verbindung bringt, schwer vorstellbar.“ Schon wahr. Aber auch etwas billig und dünn aus der Feder eines Philosophen, der kürzlich in der Bioethik-Diskussion die Segen stiftende gesellschaftliche Rolle der Religion entdeckt hat. Wie ja auch das kerneuropäische Sozialmodell in der Krise des Wohlfahrtsstaats nicht gerade strahlend im Vergleich mit dem viel geschmähten amerikanischen Neoliberalismus dasteht. Der Europäismus à la Habermas tritt eigentümlich defensiv, um nicht zu sagen rückwärtsgewandt auf, als Hüter der Errungenschaften von Brüssel und Bonn, als Theorie gewordenes Heimweh nach der guten alten Zeit vor 1989, vor der Globalisierung, vor dem 11. September 2001, vor der Osterweiterung der EU.

1989 als europäisches Ereignis kommt in diesem Entwurf in der Tat gar nicht vor, die „neuen“ Europäer sind nur Störfaktoren. „Die mittelosteuropäischen Länder“, bemerkt Jürgen Habermas sehr schmallippig, „streben zwar in die EU, ohne jedoch schon bereit zu sein, ihre eben erst gewonnene Souveränität wieder einschränken zu lassen.“ Dass es sich um mehr als ein Übergangsphänomen und Lerndefizit handeln könnte, dass die Polen oder Balten vielleicht etwas zu sagen haben, mit dem sich auseinander zu setzen lohnend wäre – das scheint Habermas überhaupt nicht in den Sinn zu kommen. Adolf Muschg droht sogar ein bisschen, von der Schweiz her: „Und wenn es historisch wahr ist und kulturell wahr bleiben muss, dass Europa von seinen Widersprüchen lebt: Mit rücksichtslosem Widerspruch kann das politische Europa nicht leben und muss sich dagegen auch institutionell vorsehen.“ Es liegt etwas Rüdes in dieser Art zu reden, und es lässt sich wohl nur durch die alles übertrumpfende moralische Vortrefflichkeit erklären, die Habermas oder Muschg dem Brüsseler Integrationsprojekt wie selbstverständlich zuschreibt. Wo das postnationale Gute herbeigehobelt wird, dürfen schon einmal ein paar Späne der internationalen Höflichkeit fallen.

Erfahrungen mit der Tyrannei

Doch steckt in der Blindheit gegenüber dem „neuen“ Europa mehr als bloß Taktlosigkeit. Der Osten des Kontinents hat dem Westen etwas zu sagen, und wer weghört, tut es zu seinem eigenen Schaden. Es ist eben nicht einfach Opportunismus gewesen, der die Beitrittsländer im Irak-Streit an die Seite der Vereinigten Staaten geführt hat; einem Mann wie Václav Havel wird man solche Motive schwerlich unterstellen können. Die frische Erfahrung der Diktatur schafft eine eigene Plausibilität für den Kampf gegen Tyrannen, und mit dem Status quo, den die Kerneuropäer so lieben und den sie nun gegen ein revolutionäresAmerika verteidigen, verbindet sich im Osten die Erinnerung an ein halbes Jahrhundert Unterdrückung. Das Erbe von 1989 sind der Primat der Freiheit und die Hoffnung auf das Neue. Ein Europa, das dieses Erbe ausschlagen würde, müsste erstarren und veröden.

Aus: DIE ZEIT, Nr.24/2003

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