Das hässliche Spiegelbild
Die USA und Europa streiten sich heftig - und wachsen doch enger zusammen

Von Richard Herzinger

Die USA und Europa sind tief zerstritten. Amerika wirft den Europäern Heuchelei, Schwäche und Anbiederung bei Diktatoren vor, Europa den Amerikanern weltpolitische Naivität, Arroganz der Macht und Militarismus. Wie soll es nun weitergehen?

Es ist das alte Lied. Es wird keineswegs erst seit der Irak-Krise gesungen, seither nur besonders inbrünstig und schrill. Mag aber die transatlantische Lage vielen Kommentatoren auch noch so dramatisch erscheinen, die euro-amerikanische Beziehungsgeschichte geht mit unverminderter Intensität weiter. Denn Amerikaner und Europäer, so sehr sie sich auch einreden mögen, einander nicht leiden zu können, sind mehr denn je aufeinander angewiesen. Egal wie, sie müssen und werden sich wieder zusammenraufen. Und sich bei nächster Gelegenheit wieder zerstreiten. Und so weiter. Wie das nun einmal ist unter intimen Partnern, die nicht voneinander loskommen.

Warum aber können sie das nicht? Weil Europa und die USA in Wirklichkeit keine so streng voneinander abgeteilten Einheiten bilden, wie sie es in ihrem Imponiergehabe um Führungs- und Selbstbestimmungsansprüche suggerieren. Die Wahrheit ist vielmehr, dass Europa einen integralen Bestandteil Amerikas darstellt und Amerika ein integraler Bestandteil Europas ist und bleibt. Und das nicht nur, weil beide miteinander einen unabdingbaren Grundbestand an Werten teilen, der auf langen gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen beruht. Amerika und Europa benutzen sich auch gegenseitig als Spiegelbild, auf das sie alles Hässliche und Abstossende projizieren, das sie an sich selbst nicht sehen wollen. «Die Amerikaner sind Unilateralisten, missachten das Völkerrecht und wollen doch bloss das irakische Öl!», rufen die Franzosen mit theatralischer Empörung aus. Dieselben Franzosen, die 1995 (unter Chirac) mit dem Verweis auf ihre nationalen Interessen trotz internationaler Ächtung überirdische Atombombentests durchgeführt, die noch im Herbst vergangenen Jahres Truppen in die Elfenbeinküste geschickt haben, ohne zuerst die Uno um Erlaubnis zu fragen, und die ihre Ölförderungsverträge mit Saddam Hussein längst unter Dach und Fach hatten, als der Hickhack im Weltsicherheitsrat begann. «Die Franzosen und die Deutschen verbünden sich mit Russland und China, die sich doch offensichtlich gröblicher Menschenrechtsverstösse schuldig machen, gegen uns, das Leuchtfeuer der Demokratie, und dabei waren sie nicht einmal fähig, ohne unsere Hilfe vor ihrer eigenen Haustür, auf dem Balkan, halbwegs zivile Verhältnisse herzustellen!», kontern die Amerikaner. Jene Amerikaner, die sich selbst nicht scheuen, Putin als Alliierten im Kampf gegen den Terrorismus den Hinterkopf zu streicheln, obwohl er seit Jahren einen brutalen Krieg gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung führen lässt. Jene Amerikaner, die es nicht anstössig finden, Gruselregime wie das in Usbekistan als Teil ihrer «Koalition der Willigen» gegen Saddam Hussein zu präsentieren.

Ein absoluter Feind

Das Pikante an der gegenwärtigen Lage ist, dass alle Vorwürfe, mit denen sich Amerika und Europa derzeit gegenseitig überhäufen, mehr oder weniger berechtigt sind. Nur bleiben sie sinnlos, solange man die Sünden des anderen aufzählt, um die eigenen nicht wahrhaben zu wollen, und solange man des anderen Schuld nicht auch als ein eigenes Problem, als ein Ausdruck der Widersprüche der gesamten westlichen Welt betrachtet. Die Konfliktlinien, die den Westen derzeit trennen, verlaufen nicht eindeutig zwischen «Amerika» und «Europa». Kaum hatten sich Frankreich und Deutschland zu einer Demonstration neu gewonnenen europäischen Selbstbewusstseins aufgeschwungen, mussten sie konsterniert feststellen, dass sich ein Teil ihres stolzen Kontinents, den sie gegen den Hegemonen in Washington ins Feld führen wollten, lieber an die Amerikaner hielt. Jetzt wird dem «neuen Europa», allen voran den Polen, von Deutschland genau das vorgeworfen, woraus dieses selbst jahrzehntelang den grössten Nutzen gezogen hatte: der enge Schulterschluss mit den Amerikanern. Viele mokieren sich jetzt über die polnischen Parvenüs, die sich von den Amerikanern als «trojanische Esel» in Europa missbrauchen liessen, anstatt mit ersten Schritten in die Weltpolitik geduldig zu warten, bis ihnen die grossen Weltstrategen in Paris und Berlin einen Platz in der zweiten Reihe angewiesen haben.

Und die USA? Sie strotzen vor Stolz auf ihre überlegene Waffentechnologie und ihre Entschlossenheit, mit der sie das Weltübel überall da bei den Hörnern zu packen und niederzuwerfen bereit sind, wo es deutlich identifizierbar scheint. Darüber vergessen sie regelmässig, wie viel schwerer es für sie ist, den Frieden zu gewinnen als einen Krieg. - Europa und Amerika bleiben nicht zuletzt deshalb aneinander geschweisst, weil die Fehler und Versäumnisse des einen immer auch der andere ausbaden muss und weil die Irrtümer des einen immer auf die des anderen zurückverweisen. Seit über zwei Jahrhunderten nehmen beide an einem einzigartigen weltgeschichtlichen Experiment teil - der Entwicklung einer offenen Gesellschaft. Sie leben unter vom Volk gewählten und vom Volk abwählbaren, von Gesetzen und öffentlicher Kritik kontrollierten Regierungen und in Gesellschaften, deren Mitglieder zugunsten der Geltung abstrakter Verfahrensregeln darauf verzichten, das, was sie für ihr Recht halten, selbst in die Hand zu nehmen und auf eigene Faust durchzusetzen.

Diese Gesellschaften haben es geschafft, in einer feindseligen Umgebung zu überleben und sogar zu den wohlhabendsten und mächtigsten der Welt aufzusteigen. Dabei standen die Chancen für ihren Fortbestand allzu oft ziemlich schlecht. Wie würde eine so unzulängliche Gesellschaft, die nie zu ihrer «eigentlichen» Form finden kann, sondern von unablässigen, öffentlich ausgetragenen inneren Konflikten in ständiger Bewegung und Veränderung gehalten wird, jemals dem Ansturm zu allem entschlossener Kräfte standhalten können, die versprachen, eine wahrhaft haltbare und harmonische Ordnung zu gründen? Faschisten, Nationalsozialisten, Kommunisten waren davon überzeugt, dass sie diese dekadenten Gebilde wie ein Kartenhaus zum Einsturz bringen oder zumindest zum Rückzug zwingen könnten. Doch das amerikanisch-europäische Experiment hat sich gegen sie alle behauptet. Das hat viele blutige Kämpfe erfordert und schreckliche Opfer gekostet. Ein Gedanke, der Gesellschaften, die sich doch eigentlich als zutiefst friedlich und tolerant betrachten, nur schwer erträglich ist: dass man es immer wieder mit Gegnern zu tun hat, die nur mit Gewalt niedergehalten werden können und zu deren Niederhaltung man grosse Risiken eingehen muss - und dabei stets in der Gefahr schwebt, im Kampf mit einem erbarmungslosen Feind dessen Züge anzunehmen und unter der Massgabe der Verteidigung der Freiheit die eigenen Rechtsprinzipien zu unterminieren.

Die strategischen Rezepte und Methoden, wie eine offene Gesellschaft mit solchen Gefahrensituationen umzugehen hat, sind so umstritten, provisorisch und unzulänglich wie alles, was eine diskutierende, pluralistische Öffentlichkeit hervorbringen kann. Gegenwärtig werden die westlichen Gesellschaften einmal mehr von einem absoluten Feind herausgefordert. Am 11. September 2001 hat er bewiesen, wie weit er zu gehen bereit und in der Lage ist. Er trägt in mancher Hinsicht die bekannten Züge früherer totalitärer Bewegungen, aber in vielerlei anderer Hinsicht ist er neu und unbekannt. Er tritt als absolute Negation der modernen globalisierten Welt auf und ist doch ein originäres Produkt der dunklen Seite dieser Globalisierung. Er ist schwer greifbar, weil er nicht an die Infrastruktur eines bestimmten Staates gebunden ist, sondern supranational operiert, und doch ist er ohne die Rückendeckung oder zumindest die stille Duldung durch Staaten und Regierungen kaum operationsfähig. Das Auftauchen dieses Feindes war für die westlichen Gesellschaften ein historischer Schock, denn er markierte mit brutaler Härte das Ende der Ära, die primär von den Nachwehen des Kalten Krieges bestimmt war, und den Beginn einer neuen Epoche voller Herausforderungen, für die es keine vertrauten Muster der Bewältigung gibt.

Amerikaner und Europäer reagierten darauf, entsprechend der Abstufung unmittelbarer Betroffenheit, unterschiedlich. Für die USA stellten die Terrorattacken eine Kriegserklärung dar, und sie betrachten sich seitdem im Kriegszustand mit einem Feind, der global agiert und den sie daher auf globaler Ebene bekämpfen müssen. So ordnet sich aus amerikanischer Sicht auch der Irak-Krieg in den Kampf gegen den Terrorismus ein - ein Zusammenhang, den die Europäer nicht nachvollziehen wollen: Die zentrale Brutstätte des islamistischen Terrorismus ist der Nahe Osten, namentlich die arabische Welt, und daher müsse dem Übel an die Wurzel gegangen und die gesamte Region neu geordnet werden. Europa aber hat sich dem ganzen Ausmass der Veränderung, das der 11. September mit sich brachte, noch nicht wirklich gestellt. Es verarbeitet die Bedrohung durch den Islamismus noch immer mit Denkkategorien, die sich aus dem Zerfall der Kalten-Kriegs-Ordnung ergaben.

Der westliche Menschenrechtsinterventionismus der neunziger Jahre wurde von der Zuversicht getragen, dass totalitäre und genozidale Diktaturen vom Urteil der Geschichte bereits zum Untergang verdammt worden seien. Eingriffe des Westens wie die auf dem Balkan zielten darauf, die anachronistischen Überreste einer überwundenen Epoche zu beseitigen. Daraus konnte der liberale Menschenrechtsinterventionismus seine Vorstellung ableiten, militärische Mittel, sofern ihr Einsatz als Ultima Ratio unvermeidlich sei, stellten im Grunde nur eine Art polizeiliches Instrumentarium dar, mit dem Fehlentwicklungen einer posttotalitären Übergangszeit korrigiert werden müssten. An ihrem Ende aber werde die Ausbreitung der zivilgesellschaftlichen Ideale des Westens stehen, womit kriegerische Mittel als Instrument der Politik endgültig überflüssig werden würden. Den Kosovo-Krieg wollten die Europäer folgerichtig nicht einen «Krieg», sondern lieber eine «humanitäre Intervention» nennen. Die Voraussetzungen, die Motive und der Verlauf des Kosovo-Krieges werden in Europa im Rückblick häufig idealisiert. Dabei hatte schliesslich auch dieser Krieg Zerstörung hervorgerufen und zivile Opfer gekostet, und auch er war völkerrechtlich umstritten, weil nicht von den Vereinten Nationen mandatiert.

Im Kosovo-Krieg aber kämpften Amerikaner und Europäer noch gemeinsam, und er hat am Ende zu einer zumindest notdürftigen Befriedung des Balkans geführt. So geriet tendenziell in Vergessenheit, dass die Erfahrungen dieses Krieges bereits in den Friktionen angelegt waren, die in der amerikanisch-europäischen Konfrontation in der Irak-Frage mündeten. Die Amerikaner nahmen daraus die Erfahrung mit, dass sie von den Europäern immer dann in die Pflicht genommen werden, wenn diese sich als unfähig erweisen, ihre eigenen Probleme zu lösen, sich aber abschätziger Kritik ausgesetzt sehen, wenn sie ihre politische und militärische Macht tatsächlich massiv einsetzen. In den Augen grosser Teile der europäischen Öffentlichkeit standen die Amerikaner am Ende als rücksichtslose militaristische Wüstlinge da, die Streubomben auf die Zivilbevölkerung geworfen hatten. Dagegen liessen sich europäische Politiker als rein humanitär motivierte Friedensbringer feiern, die nach dem Ende der kriegerischen Aktionen für zivile Verhältnisse in der verwüsteten Region sorgten - obwohl die Voraussetzungen dafür doch ohne den Einsatz der amerikanischen Militärmaschinerie nie geschaffen worden wären. Bei den Europäern wiederum blieb hängen, dass sie in die Kriegsplanungen nur unzureichend einbezogen worden waren. Es machte sich bei ihnen ein bitteres Ohnmachtsgefühl gegenüber der erdrückenden Dominanz der USA innerhalb des westlichen Bündnisses breit.

«Humanitäre Interventionen» waren im Selbstverständnis ihrer Urheber eine Art erzwungener Rückgriff auf ein Gewaltpotenzial, das eigentlich einem schon überholten Zeitalter angehörte, auf das man aber noch nicht gänzlich verzichten könne, weil es nach wie vor Kräfte gebe, die sich den neuen, friedfertigen Regeln der Völkergemeinschaft widersetzten. Mit den Terrorangriffen des 11. Septembers aber wurde offenbar, dass eine neue «totalitäre» Ideologie herangewachsen war, die sich ganz und gar ausserhalb der westlichen Geschichtserfahrungen bewegt und gegenüber dem abschreckenden Effekt «humanitärer» Schläge unempfindlich ist. Die Frontalattacke des islamistischen Terrorismus durchschlug jene Unterscheidung von «innen» und «aussen», die der Menschenrechtsinterventionismus der neunziger Jahre noch aufrechterhalten hatte. Die Regulierung von Krisenherden in aller Welt wurde damals zwar auch als Abwehr einer langfristigen Bedrohung der Sicherheit des Westens betrachtet, doch blieb dieser Zusammenhang abstrakt. Mit der Herausforderung durch den extremistischen Islamismus aber verwandelten sich die Krisenherde, an erster Stelle der Nahe Osten, in Quellen einer unmittelbaren Bedrohung der westlichen Welt. In dieser neuen Situation kamen die unterschiedlichen Sichtweisen und Interpretationen zum Vorschein, die in der gemeinsamen Politik der neunziger Jahre verborgen waren. Schematisch gesprochen, haben sich daraus zwei konkurrierende Philosophien entwickelt: Die eine setzt weiter auf Eindämmung und rechtliche Einhegung der explosiven Konflikte, die die internationale Stabilität und damit auch die Sicherheit des Westens bedrohen. Die andere setzt auf Vorwärtsverteidigung und geht davon aus, dass sich die Demokratie nur erhalten wird, wenn sie sich langfristig auf dem ganzen Globus ausbreitet.

Die Bush-Regierung, die sich letzterer Philosophie verschrieben hat, sieht es als legitim und notwendig an, dieses Ziel notfalls mit «präventiven» militärischen Mitteln zu verfolgen. Doch wären die Verhältnisse grundlegend anders, wenn die Linien der amerikanischen Politik von einem demokratischen Präsidenten bestimmt würden? Richard Holbrooke, der als Aussenminister unter einer Präsidentschaft Al Gores vorgesehen war, hat seine grundsätzliche Zustimmung zu Bushs Irak-Politik zum Ausdruck gebracht. Er kritisierte zwar die Art und Weise, wie sich die US-Regierung im Irak-Disput präsentiert hat - ihren «Stil», der «viele Leute vor den Kopf gestossen» habe. Das Ziel aber sei das richtige gewesen. Der schroffen Ablehnung, auf die George W. Bushs Irak-Politik in Europa stiess, stehen auch die amerikanischen «Multilateralisten» verständnislos gegenüber. Denn in den Augen der US- Demokraten setzt der demokratische Expansionismus der Bush-Regierung, wenn auch mit unzulänglichen Methoden, ein originäres Projekt der liberalen Linken fort.

«Negativer» Konsens

Wie diese verschiedenen Sichtweisen, die sich verselbständigt haben und auf beiden Seiten vereinseitigt wurden, wieder zusammenkommen können, ist offen. Zweifellos trennen Amerika und «Alteuropa» schwerwiegende Unterschiede: das Ungleichgewicht an militärischer Stärke, die Uneinigkeit über die Auslegung internationaler Rechtsnormen und - dies ist wohl das Gravierendste - die differierende Einschätzung der internationalen Bedrohung. Doch es ist ein Irrtum, das Zerbrechen des Konsenses der westlichen Allianz im Irak-Konflikt mit dem Zusammenbruch der «Identität des Westens» gleichzusetzen. «Der Westen» war nie dadurch gekennzeichnet, mit sich selbst identisch zu sein. Seine «Identität» lag nie primär in dem begründet, worin alle Demokratien positiv übereinstimmten. Der Kern seiner Gemeinsamkeit lag vielmehr immer in der gemeinsamen Abwehr von Übeln. «Der Westen» wird nicht so sehr dadurch charakterisiert, was er will, sondern was er nicht will: diktatorische Gleichschaltung, Unterdrückung von Persönlichkeitsrechten und die Verletzung der individuellen Menschenwürde. Unter dem Dach dieses «negativen» Konsenses hatten die unterschiedlichsten sozialphilosophischen Leitbilder, gesellschaftlichen Modelle und Rechtsauslegungen Platz, vom schwedischen Wohlfahrtsstaat bis zur individualistischen Marktordnung amerikanischer Prägung. Dass im Westen jetzt ein interner Streit über die Grundlinien der Weltpolitik ausgebrochen ist, spiegelt nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache wider, dass die Weltlage zu komplex, widersprüchlich und dynamisch geworden ist, als dass man sie in altbewährten Konsensritualen fassen könnte. Das alte Völkerrecht verliert angesichts von Kräften, die es nicht vorausgesehen hat und die sich seinen Kategorien entziehen, an Geltungskraft. Es beginnt das Tasten nach neuen Formen der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen.

«Der Westen» als Ganzes vollzieht jetzt nach, was innerhalb der offenen Gesellschaften schon längst im Gange ist: den Übergang von der Konsens- in eine Konfliktgesellschaft - in eine heterogene Struktur, die nicht primär durch Übereinstimmung, sondern durch das gemeinsame Erlernen des Umgangs mit der Nichtübereinstimmung zusammengehalten wird. Die «Emanzipation» der Europäer von den USA kann nicht darin bestehen, dass man Träumen von einer illusionären «multipolaren» Gegenachse nachhängt. Sie äussert sich vielmehr darin, dass Unterschiede jetzt offen artikuliert und ausgetragen werden können und müssen. Die Notwendigkeit, in historischem Neuland nach Wegen der Selbstbehauptung der westlichen demokratischen Zivilisation zu suchen, wird Europa noch stärker miteinander verklammern, als dies in den Zeiten harmonischer Übersichtlichkeit war, als man noch den einen grossen gemeinsamen Feind vor Augen hatte. Neben allen negativen Folgen der qualvollen Vorlaufzeit bis zum Ausbruch des Irak-Kriegs lag darin doch auch eine atemberaubend neue, vorwärts weisende Perspektive. Erstmals wurde hier ein Krieg als weltinnenpolitisches Problem behandelt, an dem die gesamte Menschheit Anteil nahm - um dann am Ende in ihrer Mehrheit doch nur passiver Zuschauer zu bleiben. Damit ist die ganze Widersprüchlichkeit, die gesamte Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung des Weltzustands bezeichnet, mit dem wir, Europäer und Amerikaner gemeinsam, zurechtkommen müssen.

Richard Herzinger, geboren 1955, gehört zu den massgeblichen politischen Essayisten Deutschlands. Zuletzt erschien «Republik ohne Mitte» (2001). Die ungekürzte Fassung des hier abgedruckten Beitrags ist nachzulesen in der Juni-Nummer der Zeitschrift «Internationale Politik».

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 2. Juni 2003

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