Demütigung oder Solidarität
Für Amerika wäre es eine Tragödie, wenn Europa sich nicht gegen Washington behaupten würde

Von Richard Rorty

Wie in amerikanischen Zeitungen zu lesen war, stammt von Präsident Bushs Beraterin für Nationale Sicherheit die Parole, Russland werde verziehen, Deutschland ignoriert und Frankreich bestraft werden. Gleichgültig, ob Condoleezza Rice wirklich diese Worte gebraucht hat – sie drücken die Haltung der Bush-Regierung gegenüber den Staaten aus, die sich nicht an der Koalition gegen den Irak beteiligt haben. Ein Dissens anderer Länder mit Washington wird vom Weißen Haus nicht als respektable Meinungsverschiedenheit behandelt, sondern als Weigerung von Schurken und Narren, sich von Weisen, Weitsichtigen und Wohlmeinenden führen zu lassen.

Rice (die ehemalige Rektorin meiner Universität) ist ein sehr kultivierter und gebildeter Mensch – um so unwahrscheinlicher ist es, dass sie von europäischen Regierungen in derart simplen Mustern denkt. Aber ihre Ansicht, dass es Amerika obliegt, die absolute Kontrolle über die internationalen Angelegenheiten auszuüben, stimmt mit jener Parole überein, die ihr in Amerikas Presse zugeschrieben wird. Vermutlich denkt sie, man müsse Leute wie Joschka Fischer und Dominique de Villepin, auch wenn beide weder Narren noch Schurken sind, öffentlich demütigen, um eine stabile Weltordnung zu gewährleisten. Denn diese Stabilität setzt voraus, dass Amerikas hegemoniale Stellung unbezweifelt bleibt.

Beängstigender noch als der schikanöse Ton, den Präsident Bushs Berater anschlagen, ist allerdings die Tatsache, dass die europäischen Regierungschefs und Außenminister in ihre schlechten, alten Gewohnheiten zurückfallen. Sie wetteifern miteinander um die Gunst Washingtons. Nach so vielen Jahrzehnten der Abhängigkeit tun sich Europas Führer sehr schwer damit, den Erfolg ihrer Außenpolitik nicht mehr daran zu messen, wie freundschaftlich ihr Verhältnis zur imperialen Großmacht ist. Machen sie aber so weiter, wird es für Washington ein Leichtes sein, sie gegeneinander auszuspielen, ja sie dahin zu bringen, wie Schulkinder um das Wohlwollen des Lehrers zu wetteifern.

Jürgen Habermas und Jacques Derrida fordern, Europa müsse „sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren“. Sollten sich die Staatsmänner „Kerneuropas“ die Forderung von Habermas und Derrida zu eigen machen und konzertiert auf ihre Unabhängigkeit von Washington hinwirken, wird die US-Regierung alles Erdenkliche tun, um die öffentliche Meinung in Amerika gegen sie zu mobilisieren. Die Weigerung, Amerikas doktrinäre Autorität anzuerkennen, wird von den meisten amerikanischen Medien als Zeichen moralischer Schwäche gesehen. Und Washington wird alle Kräfte aufbieten, um die EU-Mitglieder zu entzweien und zu verhindern, dass die Courage Kerneuropas der übrigen EU zum Vorbild wird.

Denn das Letzte, was Washington will, ist ein Europa, dessen Einigkeit und Selbstsicherheit es befähigt, die amerikanische Hegemonie in Frage zu stellen. Wenn also die Bürger und Regierungen Kerneuropas so handeln, wie Habermas und Derrida es erhoffen, wird Washington jeden Trick anwenden, sie wieder auf Kurs zu bringen, das heißt: bereitwillig, wie früher, sich das Votum ihrer Länder in der UN von den Entscheidungen von Rice und ihren Kollegen im National Security Council vorschreiben zu lassen. Denn Bushs Beratern schwant, dass sie niemals in der Lage gewesen wären, die amerikanische Öffentlichkeit für eine Zustimmung zum Krieg gegen den Irak zu gewinnen, hätte die EU zusammengehalten – hätten also die Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten einmütig und lautstark Bushs Abenteurertum zurückgewiesen.

Wenn aber die Bürger und die Regierungen Europas jetzt nicht die Stunde nutzen, wenn sie sich nicht konsequent gegen den amerikanischen Unilateralismus wenden, so wie sie es am 15. Februar manifestiert haben, dann wird wohl Europa nie wieder eine entscheidende Rolle bei der künftigen Gestaltung der Welt spielen. Die Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, der Benelux-Staaten, Italiens und Spaniens können die Entscheidung nicht aufschieben: Entweder akzeptieren sie die demütigende Bevormundung, die Washington ihnen aufzuerlegen hofft, oder sie befreien sich daraus, indem sie außenpolitische Initiativen ergreifen, auf die Washington mit fassungsloser Empörung reagieren wird.

Für Amerikaner, die entsetzt waren von der Willfährigkeit ihre Mitbürger (wie auch der Demokratischen Partei), Bushs Krieg gegen den Irak gutzuheißen, wäre es eine Tragödie, wenn sich die europäischen Staatsmänner dem amerikanischen Unilateralismus fügen würden. Denn wenn Washington Deutschland in der Tat dazu bringt, darum zu betteln, nicht ignoriert zu werden, und Frankreich, darum zu betteln, von der Strafe verschont zu bleiben, dann wird es das nächste Mal, wenn ein US-Präsident sich wieder zu einem aufregenden militärischen Abenteuer entschließt, keinen ernstzunehmenden Gegendruck aus dem Ausland mehr geben. Die blamablen Folgen des letzten Aufstandes gegen Washington vor Augen, werden europäische Regierungen ihre Vertreter in der UN kaum noch anweisen wollen, neue amerikanische Initiativen in Frage zu stellen.

Der Tag wird kommen

Der Standpunkt der Bush-Regierung, eine auf Dauer gestellte Pax Americana, deren Bedingungen allein von Washington diktiert werden, sei die einzige Hoffnung der Welt, schließt ein, dass die USA niemals erlauben dürfen, dass ihrer militärischen Macht die Stirn geboten wird. Explizit niedergelegt ist dieser Anspruch in dem Memorandum „Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten“, in dem es unmissverständlich heißt, dass „unsere Truppen stark genug sein werden, potentielle Widersacher davon abzuhalten, eine militärische Aufrüstung in der Hoffnung zu betreiben, die Macht der Vereinigten Staaten zu übertreffen oder mit ihr gleich zu ziehen“.

Gut möglich, dass künftig selbst Präsidenten, die von den Demokraten aufgestellt sind, diesen Anspruch auf permanente Hegemonie auch auf ihr Panier schreiben werden. Ja, der einschüchternde Ton, den die Regierung Bush anschlägt, könnte der Ton sein, zu dem sich alle kommenden amerikanischen Präsidentschafts-Kandidaten gezwungen sehen, um „stark“ und „entschlossen“ genug zu erscheinen, den „Krieg gegen den Terrorismus zu führen“ (eine Wendung, die von nun an als Entschuldigung für alles herhalten wird, was die amerikanische Regierung anstellen möchte). Selbst Männer wie Senator Kerry und Gouverneur Dean (die wahrscheinlichsten Kandidaten für die demokratische Präsidentschaftskandidatur im kommenden Jahr) werden sich womöglich diesem Druck beugen, obwohl sie verstehen, was Präsident Bush nicht versteht, dass nämlich kein Imperium ewig besteht. Beide sind vorausschauend genug, um zu wissen, dass die wirtschaftliche und militärische Überlegenheit Amerikas zwangsläufig vergänglich ist, so wie sie gewiss auch vorausschauend genug sind, um zu ahnen, dass das Beharren auf dauerhafter militärischer Vorherrschaft früher oder später auf eine Konfrontation mit China, Russland oder beiden hinausläuft – eine Konfrontation, die in einem Atomkrieg enden könnte. Aber dieses Wissen reicht möglicherweise nicht aus, um sie zu einer Richtungsänderung der amerikanischen Außenpolitik zu bewegen.

Folglich läuft es allein auf die Europäische Union hinaus, einer Alternative zu Washingtons Projekt einer dauerhaften Pax Americana den Weg zu bahnen. Zerbrechlich, wie die Regime in Russland und China noch immer sind, müssen sich deren Machthaber zu sehr auf die Sicherung ihrer eigenen Macht und auf innenpolitische Problemen konzentrieren, um sich Fragen über den bestmöglichen Kurs für die Welt als Ganzes zu stellen. Ihre Abneigung gegen Washingtons Arroganz wird stillschweigend bleiben. Und sie können es sich leisten zu warten, bis ihre eigene Zeit kommt – der Tag, an dem sie Washington eröffnen, dass sie seiner militärischen Macht Paroli bieten können. Wenn Amerika sich der Erkenntnis verweigert, dass dieser Tag früher oder später kommen wird, und wenn Europa keine Anstrengung unternimmt, ein alternatives Konzept der Weltordnung vorzulegen, dann wird wohl alles beim alten bleiben. Dann werden wir früher oder später jene Konstellation wiederbeleben, die im Kalten Krieg vorherrschte – Nuklearmächte, die jeweils die andere Seite dazu herausfordern, ihre Raketen als erste einzusetzen.

In gut einem Dutzend Länder werden die Regierungschefs bald den Finger auf dem roten Knopf haben. Zu glauben, Washington könne all diese Machthaber für immer durch Abschreckung in Schach halten, wäre töricht, doch diese Torheit scheint sich durchzusetzen. „Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten“ erwähnt nirgends das Ziel einer nuklearen Abrüstung, sondern nur die Nichtweitergabe atomarer Waffen. „Nichtweitergabe“ bedeutet, dass nur Regime, die Amerikas Hegemonie anerkennen, ein Recht auf den Besitz nuklearer Waffen haben. Das Dokument will weismachen, dass sich die Gefahr einer nuklearen Konfrontation mit dem Ende des Kalten Kriegs aufgelöst habe. Geht es danach, werden amerikanische und russische U-Boote, von denen jedes mit genügend Sprengköpfen ausgestattet ist, um zehn Metropolen zu zerstören, nurmehr für Generationen auf dem Grunde des Ozeans schlummern.

In der Zeit vor der Bush-Regierung pflegten amerikanische Staatsmänner zumindest Lippenbekenntnisse dafür abzugeben, dass die Pax Americana nur ein Übergangszustand auf dem Wege zu besseren Verhältnissen sei. Die meisten von ihnen waren sich bewusst, dass die amerikanische Hegemonie eine Hilfskonstruktion war, die funktionieren musste, bis etwas Dauerhafteres möglich werden würde – etwas wie eine vetofreie UN, die als globales Parlament fungieren würde, ausgestattet mit einer ständigen militärischen Friedenstruppe und fähig, eine weltweite Abrüstung durchzusetzen. (Einen republikanischen Ex- Außenminister hörte ich einmal intern äußern, zugunsten der nuklearen Abrüstung würde er einen beträchtlichen Anteil amerikanischer Selbstbestimmung hergeben.) Für Bush und seine Berater jedoch ist die Vorstellung einer solchen erstarkten UN geprägt von nutzlosem Idealismus, gleichbedeutend mit einer Weigerung, sich der Realität zu stellen, ein romantischer Rückzug in eine Traumwelt.

Absurde Träume träumen

Wenn die Projekte einer neuen internationalen Ordnung, Ergebnis einer Übereinkunft der Regierungen Kerneuropas, irgendeinen Nutzen haben sollen, dann werden sie von jenem Idealismus geprägt sein müssen, den aufrecht zu erhalten Amerika offenbar unfähig geworden ist. Die EU wird der Welt eine Vision der Zukunft aufzeigen müssen, auf die Washington mit verächtlichem Spott reagieren wird. Sie wird Vorschläge unterbreiten müssen zur Umarbeitung der UN-Charta und zur Führungsrolle der UN in einem weltweiten Atomabrüstungs- Programm. Sie wird Träume träumen müssen, die Realpolitikern absurd vorkommen. Aber, wie Habermas und Derrida betonen, einige der jüngsten Träume Europas sind bereits wahr geworden. Sie haben Recht, wenn sie erklären, dass Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Lösung zur Überwindung des Nationalstaates gefunden hat. Die Europäische Union – so wie sie ist, sogar schon vor der Ratifizierung einer gemeinsamen Verfassung – ist bereits die Umsetzung dessen, was die Realpolitiker für eine müßige Fantasie hielten. Wenn das Bewusstsein, Bürger eines europäischen Gesamtstaates zu sein, im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts ebenso tiefe Wurzeln schlägt, wie es im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts das Bewusstsein von Amerikas Bürgern tat, wird sich die Welt auf gutem Wege zu einer globalen Föderation befinden. Eine solche Föderation hat man seit Hiroshima als einzige langfristige Lösung des Problems erkannt, das Atomwaffen erzeugen.

„Warum“, fragen Habermas und Derrida, „sollte sich Europa ... nicht auch der weiteren Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und voranzubringen?“ Ja, warum eigentlich nicht? Es könnte nichts weniger als die Welt retten, es könnte leisten, was der amerikanischen Politik verwehrt ist. Amerikas „nationale Sicherheitsstrategie“ kann Desaster bestenfalls hinauszögern. Sie kann die Dinge nur für ein oder zwei weitere Generationen am Laufen halten. Wenn es je einen Zeitpunkt geben sollte, an dem die öffentliche Meinung Politiker zwingen muss, idealistischer zu sein, als ihnen angenehm ist, dann ist jetzt dieser Zeitpunkt gekommen. Aus all den Gründen, die Habermas und Derrida nennen, sind die Bürger Kerneuropas in der besten Position, einen solchen Druck auszuüben.

Wenn der 15. Februar, wie Habermas und Derrida hoffen, als „Geburt einer europäischen Öffentlichkeit“ verstanden wird, als der Anfang des neuen Bewusstseins einer gemeinsamen europäischen Identität, würde dies jedermann eine neue Vorstellung davon geben, was politisch möglich ist. Ein solches Aufblühen neuer idealistischer Selbstdefinierung würde ein Echo in der ganzen Welt auslösen, in den Vereinigten Staaten und China ebenso wie in Brasilien und Russland. Es würde uns aus der Sackgasse holen, in der wir zur Zeit gefangen sind. Es ist, soweit ich sehen kann, so ziemlich das Einzige, was diese Wirkungsmacht haben könnte.

Bushs Apologeten in den amerikanischen Medien werden den Appell von Habermas und Derrida lediglich als ein erneutes Beispiel für den neiderfüllten und ressentimentgeladenen Antiamerikanismus abtun, der bei europäischen Intellektuellen periodisch wiederkehrt. Ein solcher Vorwurf würde jeder Grundlage entbehren. Beide Männer haben von ihren zahlreichen und ausgedehnten Besuchen in den USA profitiert und ein tiefes und gründliches Verständnis der politischen und kulturellen Leistungen Amerikas gewonnen. Sie sind sich sehr wohl der welthistorischen Rolle Amerikas als erster der großen konstitutionellen Demokratien bewusst, und auch dessen, was Amerika vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg für Europa geleistet hat. Sie erkennen an, dass es der idealistische Wilsonsche Internationalismus in den Vereinigten Staaten war, der schließlich zur Schaffung der Vereinten Nationen geführt hat. Sie wissen, dass die unilateralistische Arroganz der Bush-Regierung einen Unglücksfall darstellt, der historisch durchaus kontingent ist – weder unvermeidlich noch Ausdruck von etwas, das tief und untilgbar in der amerikanischen Kultur und Gesellschaft eingebettet ist.

Sowohl in Europa als auch in Amerika gibt es viele Millionen Menschen, die klar erkennen, dass Amerikas Anspruch auf permanente Hegemonie trotz allem, was es für die Sache der menschlichen Freiheit geleistet hat, ein schrecklicher Fehler ist. Amerikaner, denen dies bewusst ist, brauchen alle Hilfe, die sie kriegen können, um ihre Mitbürger davon zu überzeugen, dass Bush ihr Land auf einen falschen Weg geführt hat. Die Konsolidierung der Europäischen Union zu einer starken, unabhängigen Macht in der Weltpolitik würde von diesem Teil der öffentlichen Meinung in Amerika nicht als Ausdruck eines ressentimentgeladenen Antiamerikanismus gewertet, sondern als eine völlig angemessene und unbedingt willkommene Reaktion auf die Gefahr, welche die derzeitige Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik für die Welt darstellt.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2003

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