Agenda 2010: Die Soziale Konterrevolution

Oder; wie die Partei des Soziastaates zum Kanzlerrettungsverein degradiert wird

Murat Çakır


Me | ta | mor | pho | se, [Lat. metamorphosis, Fr. métamorphose], Umgestaltung, Verwandlung. Wahrscheinlich ist das der angemessenste und richtigere Begriff, mit dem die heutige Sozialdemokratie erklärt werden kann. Denn, wenn man sich die verfehlte Politik der von ökoliberalen Grünen gestützten SPD – Regierung ansieht, fällt einem kein anderer Begriff ein. Die deutsche Sozialdemokratie, die ihre letzten Gewissenskrümel auch von Bord geworfen hat, ist am Ende ihrer 140 jährigen Reise angekommen. Wenn die nächsten Generationen die Geschichtsbücher lesen, werden sie höchstwahrscheinlich es schwer nachvollziehen, dass gerade die Partei, die ihr Leben versauende „soziale Konterrevolution“ zu Ende brachte, eigentlich aus der Arbeiterbewegung heraus entstanden war und marxistische Wurzeln hatte.

Nun, ich mag nicht voraussehen können, wer in Zukunft was denken wird. Eins jedoch ist heute schon klar: Das, was die Lohnabhängigen, die RentnerInnen, Jugendliche, Alleinerziehende und in die Sozialhilfegedrängte über die Politik der Schröder – Regierung denken. Nämlich nichts gutes! Trotzdem will die Schröder – Regierung – in seltener Eintracht mit der Antisozialstaatsallianz – ihre „Agenda 2010“ ohne Rücksicht auf Verluste voll durchsetzen.

Die von der Kapitallobby, monopolistischen Medien, neoliberalen „Wirtschaftsweisen“ und den konservativ – liberalen Parteien seit Jahrzehnten als „unausweichlich“ suggerierte „Modernisierung“ (sprich: Abbau) des Sozialstaates hat an Geschwindigkeit zu genommen und eine neue Phase erreicht. Die heutige Losung heißt: „Kürzen, sparen und Leistungserhöhung“. Die SPD schreibt diese Losung auf ihre Fahnen und erklärt dem Sozialstaat den totalen Krieg.

Was ist sozialdemokratisch an dieser Politik?

Den Widerständen und der Kritik aus den Gewerkschaften, gesellschaftlichen Kräften und aus den eigenen Reihen wird mit Totschlagsargumenten wie „das können wir nicht mehr bezahlen, Leute!“ oder „Umbau ist für den Erhalt notwendig“, versucht die Luft aus den Segeln zu nehmen. Den „unanständigen“ (F. Müntefering) Bestrebungen für ein Mitgliederbegehren reagiert man aus der SPD – Spitze mit der Antwort „Agenda 2010 ist ein zutiefst sozialdemokratisches Programm“. Dieses „zutiefst sozialdemokratische“ Agenda sieht u. a. vor;

  • die Kürzung der Leistungsdauer der Arbeitslosenversicherung,
  • die Herabsenkung der Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe,
  • die Verschärfung der Zumutbarkeitsmaßnahmen,
  • die Senkung der Renten,
  • die Erhöhung des Renteneintrittsalters,
  • die Aushebelung des Kündigungsschutzes und der Tarifautonomie.

Was ist noch sozialdemokratisch an diesen Plänen? Eine solche Politik wurde in der Vergangenheit stets als Synonym für den Neoliberalismus und wildem Kapitalismus genannt. Und die Sozialdemokraten standen an der Spitze des Widerstandes. Nun muss die Geschichte neu geschrieben werden.

Es hat den Anschein, dass die rot – grünen Wendehälse unter dem Druck des Kapitals und der Machterhaltungshysterie sämtliche ihrer Skrupel Beiseite gelegt haben. Manche Regierungsmitglieder scheuen sich inzwischen nicht davor, verfassungsrechtlich verankerte wie Berufswahl zur Disposition zu stellen. So erklärte die sozialdemokratische Bundesministerin Edelgard Bulmahn der Zeitschrift Focus, dass manche Schüler unrealistischen Berufswünschen nachgehen und bei Nichterfüllung ihres Wunsches, sich an die Sozialhilfe wenden. Jungen Sozialhilfeempfängern, die solchen unrealistischen Berufswünschen nachgingen, müssten die Sozialhilfe gekürzt werden. Tja, sogar die konservative Kohl – Regierung hätte es nicht mal gewagt, solchen Unsinn auszusprechen.

Krisenopfer werden als „Täter“ behandelt

Während die Schröder – Regierung der Kapitalakkumulation und Kapitalinteressen dienende Maßnahmen vorantreibt, widerstrebt sich nicht davor, die Krisenopfer quasi als „Täter der Krise“ zu behandeln. Nach Schröders „zutiefst sozialdemokratischen“ Plänen werden insbesondere ältere Arbeitslose verprellt.

Trotz der Tatsache, dass ältere Arbeitslose auch nicht mit den „neuen Arbeitsmarktkonzepten“ kaum Chancen haben, einen ihren Lebensunterhalt garantierenden Arbeitsplatz zu finden, mutet man ihnen zu, sich mit Kürzung der Leistungsdauer der Arbeitslosenversicherung von 32 Monaten auf 18 Monate abzufinden. Die Argumente dafür sind mehr als Fadenscheinig: „Die Lohnnebenkosten unter Kontrolle halten“ und "Arbeitsanreize schaffen“.

Die Unseriosität der Argumente wirken jedoch auf Euro und Cent gerechnet für die Betroffenen als besonders Fatal. Ein Arbeiter mit einem durchschnittlichen Einkommen von 29.230 Euro Brutto, würde bei einer Arbeitslosigkeit aufgrund der Leistungsverkürzung als Verheirateter rund 14.500 Euro bzw. als Lediger rund 12.000 Euro verlieren.

Dabei bleibt es aber auch nicht. Aufgrund der Abkoppelung der Arbeitslosenhilfe von der Beitragsbindung, soll zukünftig alle Einkommen der Familien auf die Arbeitslosenhilfe angerechnet werden. Das bedeutet, wer zukünftig aus Sozialhilfe herabgesetzte Arbeitslosenhilfe erhalten will, dessen Familie darf entweder nichts verdienen oder auf Sozialhilfe angewiesen sein. Sieht so der Lohn für die Jahre als loyaler Beitragszahler aus?

Als Schröder seine „Agenda 2010“ im Bundestag verteidigte, sagte er „wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien ändern – wird mit Sanktionen rechnen müssen.“ D.h. die verschärften „Disziplinierungsmaßnahmen“ (W. Seppmann) werden nochmals verschärft. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters und der Selbstbeteiligungen sowie Zuzahlungen im Gesundheitssektor vervollständigen dann diese „Disziplinierungen“.

„Agenda 2010“ ist keine Lösung

Das angekündigte Abbauprogramm der Bundesregierung ist nicht in der Lage, das Problem der chronischen Massenarbeitslosigkeit zu lösen. Im Gegenteil; die massiven Kürzungen im sozialen Bereich werden neue Arbeitslose und neue „Bedürftige“ produzieren. In dieser Qualität entspricht die „Agenda 2010“ einer „sozialen Konterrevolution“. Der „Genosse der Bosse“ macht eine Politik, an dem nichts mehr „sozialdemokratisch“ ist und nur den Kapitalinteressen dient. Machterhaltungsgier treibt Schröder zu Handlungen, in denen er die Traditionen seiner eigenen Partei mit Füssen tritt. Während die SPD für die Annahme des „Godesberger Programms“ fast fünf Jahre diskutierte, lässt Schröder heute der Partei, für die Annahme einer weit rückständigeren Programms nur 6 Wochen Zeit.

Die Prognosen für Schröder und seine Mannen stehen nicht schlecht. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Schröder auf dem Sonderparteitag am 1.Juni seine Mehrheiten erhalten. Dadurch wird die SPD vielleicht die Regierungsfähigkeit (!) wieder gewinnen, das wird aber gleichzeitig bedeuten, dass sie ihre Metamorphose nun endlich vollzogen hat. Von einer Partei, deren Geburtsstätte der Kampf der Arbeiterbewegung war und ihr Name mit dem Sozialstaat assoziiert wurde, zu einer, den imperialen Gelüsten nacheifernden neoliberalen Partei der Globalisierung.

Die soziale Verantwortung war die Aorta der Sozialdemokratie. Der Sozialstaat ihr Herz. Im 140. Gründungsjahr will sich die SPD davon trennen. Nun, es ist eine politische Entscheidung. Dazu hat sie natürlich ein Recht. Aber, wie jede Entscheidung, hat auch diese Entscheidung einen Preis. Und der wird sehr hoch sein. Die soziale Verantwortung verhalf der SPD zum Leben. Ohne sie wird die SPD ihre Seele verlieren.