Vom Kalten Krieg zum Neoimperialismus

Die USA sind nicht allmächtig - Irakkrieg mit unerwarteten Hindernissen

Von Peter Strutynski

Ich möchte in meinem Referat vor allem drei Behauptungen aufstellen und sie zu begründen versuchen:

1. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind - ganz im Gegensatz zu ihrer einzigartigen militärischen Stärke - keineswegs allmächtig.

2. Der Irakkrieg 2003 ist nicht nur eine Niederlage des menschlichen Geistes, sondern auch eine politische Niederlage der USA.

3. Die Friedensbewegung ist zu einer weltweit politischen Kraft geworden, zu einer "Internationale des Friedens".

Beginnen möchte ich mit einer weltpolitischen Einordnung des Irakkrieges. Erinnern wir uns einen Augenblick an dessen Vorgeschichte. Begonnen hat der "Vorkrieg" mit der bekannten Rede des US-Präsidenten George W. Bush zur "Lage der Nation" (29. Januar 2002), worin er erstmals öffentlich eine "Achse des Bösen" ausgemacht hatte, der die drei "Schurkenstaaten" Irak, Iran und Nordkorea angehörten. Kennzeichen dieser Staaten sind nach Auffassung der US-Administration ein diktatorisches und menschenverachtendes Regime, der Besitz von oder das Streben nach Massenvernichtungswaffen und die Unterstützung oder gar Beherbergung terroristischer Netzwerke. Nun wären diese drei Vorwürfe für sich genommen für die USA kein Grund, einen Staat für "böse" zu halten und unter weltpolitische Quarantäne zu stellen. Mit wie vielen anderen Diktaturen pflegten und pflegen die USA gute bis herzliche Kontakte! Wie viele Staaten - außer den drei genannten - betätigen sich regelmäßig oder sporadisch als Proliferanten des Todes? So waren z.B. honorige westliche Staaten und Firmen maßgeblich an der Aufrüstung des Irak mit biologischen und chemischen Waffen einschließlich der dafür benötigten Trägersysteme beteiligt. Die enthüllende Liste der Lieferanten machte 1991 die Runde; sie befand sich auch in dem vom Irak den UN-Inspekteuren vorgelegten Waffenbericht vom Dezember 2002 - wo sie allerdings auf Geheiß der US-Regierung geschwärzt wurde. Und auch das dritte Kennzeichen "böser" Staaten, sie unterstützten Terroristen, könnte mit wesentlich mehr Recht auf zahlreiche andere Staaten zutreffen als auf die "Achse des Bösen". So stammen beispielsweise 16 von 19 mutmaßlichen Terroristen des 11. September 2001 nicht aus Irak, Iran oder Nordkorea, sondern aus Saudi-Arabien. Doch dieser Staat zählt zu den engsten Verbündeten der Vereinigten Staaten in der Golfregion.

Die "Achse des Bösen" ist im Grunde genommen nichts anderes als eine zweckdienliche Reduzierung des "Schurkenstaaten"-Konzepts früherer Präsidenten auf die Länder, die zur Zeit in der Hauptrichtung der US-Expansionsbestrebungen liegen; und diese Richtung führt nun einmal über den Nahen Osten bis nach Zentralasien und bis an die Grenzen der Volksrepublik China. Charles Krauthammer, konservativer Kolumnist der "Washington Post" mit großem politischen Einfluss auf das Weiße Haus, war schon Anfang Februar letzten Jahres der Meinung gewesen, dass der interne Meinungsstreit in der US-Administration zwischen den reaktionärsten Hardlinern um Bush, Cheney und Rumsfeld und den bündnisorientierten Pragmatikern um Außenminister Powell zugunsten ersterer entschieden sei. Präsident Bush habe den "Krieg gegen den Terrorismus" in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Januar neu definiert und ihm eine klarere Zeitachse gegeben: "Wir werden uns beraten", sagte Bush vor dem Kongress, "aber die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Ich werde nicht auf Ereignisse warten, während die Gefahren zunehmen. Ich werde nicht untätig zusehen, während die Gefahr näher und näher kommt. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden es den gefährlichsten Regimes der Welt nicht erlauben, sie mit den zerstörerischsten Waffen der Welt zu bedrohen." Krauthammer meinte nun, Bush werde seine Popularität für einen weitaus größeren und riskanteren Krieg nutzen, als es der Afghnaistankrieg darstellte. Wohin gehen die USA "nach Phase eins, Afghanistan", fragte Krauthammer. Seine Antwort: Phase zwei beginne jetzt mit der Terroristenjagd von den Philippinen über Bosnien bis nach Somalia. Und Phase drei, der Sturz Saddam Husseins, werde in aller Ruhe vorbereitet, während Phase zwei noch wochenlang Schlagzeilen macht. Einen groß angelegten Feldzug gegen Irak sagte Krauthammer innerhalb von 12 Monaten voraus.

Im Sommer l. J. begannen die USA sowohl mit einer detaillierten Planung des Krieges als auch mit dem Truppenaufmarsch in der Golfregion. Am 5. Juli 2002 veröffentlichte die New York Times einen Bericht, in dem die Planungen des Pentagon für einen Krieg gegen den Irak preisgegeben wurden. Zehntausende von amerikanischen Marines und anderen Bodentruppen sollten sich ihren Weg ins Innere des Irak freikämpfen, hieß es unter Berufung auf ein geheimes Planungsdokument des US-Zentralkommandos in Tampa, Florida. Von dort sollte der nächste Krieg gegen den Irak geleitet werden. Unterstützt von schlagkräftigen Luft- und Seestreitkräften würde der US-amerikanische Angriff mit bis zu 250.000 Mann von drei Seiten geführt werden, vom Norden, Süden und vom Westen. US-Spezialeinheiten oder CIA-geführte Operationen würden im Hinterland des Irak Depots und Waffenlager angreifen. Der größte Teil der US-Bodentruppen sollte Irak von Kuwait aus überfallen. Der Planung entsprach die Verlegung von Truppen und Kriegsgerät an den Golf. Hierbei spielt die US-Airbase Frankfurt a.M. eine herausragende Rolle. Am 2. August 2002 meldet die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem Frankfurter Lokalteil unter der Überschrift "Amerikaner verstärken Militärtransportflüge": "Bis Ende August wickeln die amerikanischen Streitkräfte über den Frankfurter Flughafen bis zu 30 zusätzliche Flüge täglich ab. Das teilte der Lärmschutzbeauftragte der Landesregierung, Johann Bruinier, der Stadt Frankfurt und anderen Kommunalverwaltungen im Flughafenumkreis mit. Ein Viertel der Transportflüge, die nach amerikanischen Angaben der Unterstützung der Anti-Terror-Aktion 'Dauerhafter Frieden' gelten, findet zur Nachtzeit statt - auch mit schweren und lauten Maschinen." Großbritannien begann derweil mit dem Abzug von 1.700 Soldaten aus Afghanistan und von 1.500 Soldaten von der NATO-Eingreiftruppe (Juni 2002) sowie von 3.000 Soldaten einer Panzerdivision aus Polen (Juli 2002). Außerdem wurde im Juli mit der massenhaften Einberufung von Reservisten begonnen. Seither wurden etwa 200.000 US-Soldaten und rund 30.000 britische Soldaten in der Golfregion stationiert.

Frappierend war auch die Offenheit, mit der vor aller Welt der Truppenaufmarsch als kriegsvorbereitender Vorgang hingestellt wurde. Dies stellt zweifellos ein Novum in der neueren Geschichte dar. Seit Monaten predigt die US-Administration einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Irak - und kein einziges Mal ist sie dafür etwa von UN-Generalsekretär abgemahnt worden. Dabei ist die UN-Charta in diesem Punkt eindeutig: In Art. 2 Ziffer 4 wird ja nicht nur die "Anwendung von Gewalt" sondern auch schon deren "Androhung" in den internationalen Beziehungen untersagt. Wenn je der historisch belegte Begriff des "Appeasement" Sinn macht (er wird als Vorwurf bisher fast ausschließlich fälschlicherweise gegenüber den kriegsunwilligen Europäern gebraucht, die durch ihr Beharren auf einer "friedlichen Abrüstung" des Irak angeblich Saddams Position stärken), dann muss er gegenüber den Vereinten Nationen und der EU, gegen die Staatengemeinschaft insgesamt erhoben werden. Mir ist nicht bekannt, dass eine dieser Institutionen oder irgend eine Regierung den USA diplomatische Proteste oder gar Sanktionen angedroht hätte. Im Gegenteil: Die Diplomatie und das Regierungshandeln der Staaten dieser Welt - selbst wenn sie im Widerspruch zur US-Kriegspolitik stehen - erschöpfen sich im Beschwichtigen, in der Suche nach "Kompromissen" (als könne es zwischen Krieg und Frieden einen Kompromiss geben!) und nach "intelligenteren Lösungen", mit denen die USA vielleicht ohne den großen Krieg an ihr Ziel kommen, das da heißt: Regimewechsel und Etablierung einer den USA genehmen (Protektorats-)Verwaltung.

Auch die mehrfache Verschiebung des möglichen Angriffstermins spricht nicht unbedingt für die Souveränität der einzigen Weltmacht, diesen Krieg nach den eigenem Gutdünken zu führen. Wir erinnern uns, dass seit dem letzten Sommer mindestens vier "günstige" Zeitpunkte für einen möglichen Kriegsbeginn "gehandelt" und immer wieder verworfen bzw. verschoben wurden. Zunächst war es der September, dann der November (vor den Kongressteilwahlen!), im November hieß es dann, dass der Krieg Ende Januar beginnen müsse, weil dann die klimatischen Bedingungen für die US-Soldaten und das militärische Gerät am günstigsten seien. Schließlich verstrich auch der nächste "Termin" (Mitte bis Ende Februar).

Es kam ein weiteres retardierendes Moment hinzu: der Gang der US-Regierung vor die Vereinten Nationen. Nach der Ankündigung des US-Präsidenten vor der UN-Generalversammlung am 12. September 2002, man werde von den Vereinten Nationen verlangen, dass sie ihre Aufgaben im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und insbesondere bei der Entwaffnung des Irak wahrnehmen müsse, war zumindest klar, dass sich die US-Administration den Mechanismen der UNO unterwerfen würde. So wurde schließlich im November 2002 die Resolution 1441 (2002) im UN-Sicherheitsrat einstimmig verabschiedet und somit ein gewisses Zeitfenster für die Tätigkeit der UN-Waffeninspekteure geöffnet. Der angekündigte Krieg gegen den Irak wurde somit weiter vertagt.

Dies alles deutet darauf hin, dass selbst die einzige Supermacht dieser Welt nicht allmächtig ist. Dass sie bisweilen in ihrem Drang nach Unilateralismus gebremst wird und außenpolitische Rücksichten nehmen muss.

Das sture Festhalten an den einmal beschlossenen Kriegsplänen zeigt aber auf der anderen Seite, wie Ernst es den USA war diesen Krieg tatsächlich zu führen. Washington muss also triftige Gründe für diesen Krieg haben. Welche sind das?

Die Welt nach dem Kalten Krieg: Ein explosives Gemisch alter und neuer Konfliktkonstellationen

Mit dem Ende des "klassischen" Ost-West-Konflikts in Europa haben sich die Koordinaten der Weltpolitik zweifellos stark verändert. Wir befinden uns seither in einer Übergangszeit, in der drei verschiedene Konstellationen nebeneinander existieren und möglicherweise eine brisante Mischung ergeben. Erstens hat der Kalte Krieg nicht wirklich aufgehört (1), zweitens stehen wir an der Schwelle eines neuen Kalten Kriegs (2) und drittens befinden wir uns auf der Rückkehr in die Zeit vor dem Kalten Krieg (3).

(1) Meine erste These lautet: Der Kalte Krieg, der in den 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der ganzen Welt seinen Stempel aufgedrückt hatte, ist nur aus einer eurozentrierten Perspektive beendet worden. In Ostasien und im pazifischen Raum hat der Kalte Krieg in Wirklichkeit nie zu existieren aufgehört. Dies hat damit zu tun, dass in Asien der große Antipode der USA, die Volksrepublik China, von der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts nicht betroffen war und nicht in den Strudel des Zerfalls des Realsozialismus geriet. Unabhängig davon, wie sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in China entwickeln werden, stellt das Land für die Supermacht USA eine große Herausforderung dar - auch wenn sich Peking zur Zeit selbst weniger als Supermacht, sondern allenfalls als Regionalmacht begreift. Auch die koreanische Halbinsel spielt eine herausragende Rolle in der Kontinuität des "Kalten Kriegs". Dies wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass US-Präsident Bush in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002 Nordkorea explizit seiner "Achse des Bösen" zugeordnet hat. Im Hin und Her der letzten Wochen und Monate um die zivilen und militärischen Atomprogramme Nordkoreas haben die Kontrahenten alle Register des gängigen gegenseitigen Bedrohungsrituals gezogen. Kalter Krieg also wie gehabt!

(2) Meine Zweite These lautet: Es ziehen Strukturen eines "Neuen Kalten Kriegs" am Horizont auf. Hierbei geht es v.a. um die hochgradig ideologisch ausgetragene Konfrontation zwischen der "zivilisierten" und der "nicht zivilisierten", der christlich-abendländisch-modernen Welt und der islamisch-mittelalterlichen Welt. Der unvermeidbare Zusammenstoß der Kulturen, den Samuel Huntington schon Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts kommen sah, scheint mit den Angriffen auf die Twin Towers eingeläutet worden zu sein. Die Kriegsrhetorik des US-Präsidenten in den vielen Reden, die er seither gehalten hat, beschwört einen solchen neuen Kalten Krieg geradezu herauf. An die Stelle des "Antikommunismus" als ideologisches Bindemittel des Westens tritt heute der Anti-Islamismus, der unter dem Label des "Antiterrorismus" firmiert. Was die Situation heute von dem alten Kalten Krieg unterscheidet und so gefährlich macht, ist die Tatsache, dass die USA aufgrund ihrer militärischen Stärke diesen neuen Kalten Krieg nach Belieben auch heiß führen können.

(3) Die dritte Konstellation wird von den westlichen Industriestaaten (einschließlich Japans) selbst gebildet. Die Risse, die periodisch immer wieder zwischen den USA und den EU-Staaten virulent werden (Streit um den ICC, Kyoto-Protokoll und andere Beispiele aus der Umwelt- und Handelspolitik), deuten auf langfristige strategische Widersprüche hin, die über den Weg des politischen Kompromisses nicht endlos zu kitten sein werden. Die Hauptakteure sind wahrscheinlich dieselben, die schon vor hundert Jahren den Kampf um die Vorherrschaft ausgetragen haben. Nach dem bekannten Sozialwissenschaftler und Philosoph Immanuel Wallerstein waren dies seit 1873 Deutschland und die Vereinigten Staaten. Sie repräsentierten bis 1913 die erfolgreichsten Ökonomien und lieferten sich von 1914 bis 1945 einen "dreißigjährigen Krieg", der - in der Zwischenkriegszeit - nur von einem Waffenstillstand unterbrochen war. Deutschland hat nun im Rahmen der EU Verstärkung erhalten - die USA sind weitgehend auf sich gestellt und im Moment dabei, trotz weltweiten Engagements politisch in die Isolation zu geraten. Wallerstein gibt den USA nur noch zehn Jahre für den unabwendbaren Abstieg als einer entscheidenden Macht in der Weltpolitik. Schon heute sei es so, dass die USA lediglich auf militärischem Gebiet eine Weltmacht darstellen, ökonomisch seien sie es längst nicht mehr. Für Wallerstein stellt sich deshalb nicht mehr die Frage, "ob die US-Hegemonie schwindet, sondern ob die Vereinigten Staaten einen Weg finden in Würde abzudanken, mit einem Minimum an Schaden für die Welt und für sie selbst."

Die relativ einfache und gut durchschaubare Weltordnung der Bipolarität und des Systemwettstreits zwischen einem gezähmt und attraktiv erscheinenden Kapitalismus auf der einen und einem ökonomisch ineffizient und demokratisch defizitär erscheinenden Sozialismus auf der anderen Seite ist also heute von einem höchst explosiven Gemisch dreier sich überlagernde Konfliktkonstellationen abgelöst worden. In ihnen entwickelt sich eine neue Welt(un)ordnung, die gekennzeichnet ist durch

· die von der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Währungsfonds gestützte Durchsetzung neoliberaler Grundsätze in der Wirtschafts- und Finanzpolitik fast aller Staaten der Erde,

· die Entsouveränisierung, Marginalisierung oder/und Radikalisierung von Staaten und Gesellschaften, die von der "Globalisierung" ausschließlich negativ betroffen sind oder die aus ressourcialen und geostrategischen Gründen zum Objekt der Begierde der USA und der anderen führenden kapitalistischen Staaten werden,

· die relativ ungehemmte Ausbreitung und Barbarisierung regionaler, zumeist innerstaatlicher Kriege und bewaffneter Konflikte insbesondere in der Dritten Welt und der ehemaligen "Zweiten Welt",

· die fortschreitende Umwandlung der Vereinten Nationen in ein Hilfsorgan der führenden Mächte, insbesondere der USA, das im wesentlichen nur noch auf zwei Funktionen reduziert sein soll: die Legitimierung militärischer Interventionen und die humanitäre Nachsorge in militärisch "befriedeten" Staaten und in den von jeder Entwicklung abgekoppelten Hunger- und Katastrophengebieten der Erde,

· den in den letzten Jahren immer deutlicher zum Ausdruck kommenden Drang der USA zum "Unilateralismus", der von der komfortablen Situation einer uneinholbaren militärischen Stärke begleitet wird, und

· die zunehmende Differenzierung der ökonomischen und geostrategischen Interessen zwischen den führenden Staaten der "Triade" USA-Europa-Ostasien einschließlich der sich verschärfenden Konkurrenz zwischen den global operierenden Transnationalen Konzernen.

Neoimperialismus: Kampf um die Energievorräte

Insgesamt haben wir es also mit einer Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts sowie mit einer Revitalisierung der Widersprüche zwischen den Hauptmächten der industrialisierten Welt des "Nordens" zu tun. Diese Widersprüche waren nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des dominanten Systemwettstreits zwischen Kapitalismus und Realsozialismus jahrzehntelang außer Kraft gesetzt worden. Diese neue Konstellation erinnert sehr an ältere imperialistische Konfliktlagen. Dennoch scheint mir haben sich die Voraussetzungen und das Gesicht des Imperialismus in mancher Beziehung verändert. Heute geht es z.B. nicht mehr in erster Linie um den Kampf der großen Konzerne um neue Absatzmärkte. Der Weltmarkt, liegt den TNK vielmehr zu Füßen und es gibt keine relevanten Grenzen mehr für die Waren der Ersten Welt. Schwieriger ist es da schon für die umgekehrten Warenströme (etwa für Agrarprodukte aus der Dritten Welt in die entwickelten kapitalistischen Länder), doch imperialistische Austauschbeziehungen beruhen nun einmal nicht auf dem Prinzip der Gleichheit und Gleichberechtigung. Eine Einschränkung des unbeschränkten Weltmarktes (dies wurde in der Diskussion kritisch angemerkt) gibt es. Sie betrifft ein weltwirtschaftlich weniger ins Gewicht fallendes, für bestimmte Volkswirtschaften aber durchaus interessantes Marktsegment: den Rüstungshandel. Da er in der Regel staatlich kontrolliert ist, kann er im Zweifelsfall auch nur politisch, d.h. notfalls auch militärisch erschlossen bzw. umverteilt werden. Die partielle Neuregelung der Verhältnisse im Nahen Osten nach dem zweiten Golfkrieg 1991 haben die USA z.B. in die komfortable Lage gebracht, fast den gesamten Rüstungsimportbedarf von Kuwait und Saudi-Arabien zu befriedigen.

Heute geht es auch nicht mehr um den seinerzeit erbittert geführten Kampf um den Zugang zu den Kapitalmärkten anderer Staaten und Regionen. Kapitalexport und Direktinvestitionen sind heute fast überall auf der Erde uneingeschränkt möglich, ja, die Nationalstaaten sind im Zuge der weltweiten Standortkonkurrenz zu "nationalen Wettbewerbsstaaten" geworden.

Schließlich geht es auch nicht mehr um die Eroberung fremder Territorien nach dem Muster des klassischen Kolonialismus/Imperialismus. Koloniale Besitzungen wären heute eher ein lästiger Kostenfaktor denn ein Gewinn für den erobernden Staat. So erklärt sich im Übrigen die Abkoppelung ganzer Weltregionen von jeglicher Entwicklung. Länder oder Regionen, in denen nichts zu holen ist, werden zur Sozial- und Ökobrache der neoliberalen Globalisierung.

Das einzige, was dagegen heute noch zählt und in Zukunft sogar noch an Bedeutung gewinnen dürfte, ist die (neo-)imperialistische Konkurrenz um knappe Ressourcen, insbesondere um die endlichen fossilen Energievorräte dieser Erde. Da diese Vorräte lokalisiert sind, d.h. nur an bestimmten Standorten vorkommen und dort "gehoben" werden müssen, können selektive territoriale "Eroberungen" nötig sein. Die weltweite Rohstoff- und Energiesicherung zieht sich wie ein roter Faden durch alle strategischen Konzepte der NATO sowie der einzelstaatlichen Sicherheitsdoktrinen der führenden Industriestaaten:

· Die Römische Erklärung der NATO vom November 1991 enthielt bereits die strategische Neuorientierung des ursprünglich auf Verteidigung ausgelegten Militärbündnisses. Die Gefahr eines "großangelegten, gleichzeitig an allen europäischen NATO-Fronten vorgetragenen Angriffs" sahen die NATO-Strategen als "praktisch nicht mehr gegeben" an. Stattdessen erwüchsen dem Bündnis neue Sicherheitsrisiken, die "ihrer Natur nach vielgestaltig" seien und "aus vielen Richtungen" kämen. Und als Beispiele für solche neuen Risiken nannte das NATO-Dokument die "Verbreitung von Massenvernichtungswaffen", die "Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen" sowie "Terror- und Sabotageakte".

· Das deutsche Verteidigungsministerium übernahm das Strategische Konzept der NATO ein Jahr später fast wortgleich in seine "Verteidigungspolitischen Richtlinien" (28. November 1992), die übrigens bis zum heutigen Tag in Kraft geblieben sind und im Frühjahr einer Ankündigung Peter Strucks zufolge überarbeitet werden sollen. In einer global vernetzten, chaotischen Welt, so heißt es dort, würden "unwägbare Risiken" überall lauern und stets auch "deutsche Interessen" berühren. Daher, so schlussfolgerten die Richtlinien, ließe sich "Sicherheitspolitik weder inhaltlich noch geografisch eingrenzen". Die Ziele deutscher Sicherheitspolitik werden dagegen sehr exakt beschrieben und lauten u.a.: "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt ..."

· Ähnlich argumentierte das Verteidigungs-Weißbuch aus dem Jahr 1994, das damals zeitgleich mit dem französischen Weißbuch veröffentlicht wurde, in dem sich dieselben Formulierungen bezüglich der weltweiten Rohstoffsicherung finden.

· Eine der ersten Amtshandlungen des von einem US-Gerichts eingesetzten US-Präsidenten George W. Bush war die Bildung einer Nationalen Energiekommission unter der Leitung seines Vizepräsidenten Richard Cheney. "Im großen Spiel des beginnenden 21.Jahrhunderts", so schrieb Heiko Flottau am 28. Januar in der Süddeutschen Zeitung, "geht es .. um wirtschaftliche Einfluss-Sphären: Wer würfelt so viele Sechser, dass er als Erster das Etappenziel Irak und danach das Feld mit der Aufschrift "Welt- Erdölreserven" erreicht?" Zu den außenpolitischen Prioritäten der Regierung des Texaners George W. Bush gehört die Sicherstellung des wachsenden Ölbedarfs. Im Mai 2001 legte Cheneys "Nationale Gruppe für Energie-Entwicklung" ihren Bericht vor. Thema: "Wie ist der Erdölbedarf der USA in den nächsten 25 Jahren zu sichern?" Immerhin werde der Anteil des von den USA importierten Rohöls bis 2020 von jetzt 52 auf 66 Prozent steigen. Die Sicherung der Ölquellen durch Diversifizierung der Importe von Kolumbien über Venezuela bis zum Persischen Golf und nach Zentralasien ist eine der Forderungen des Cheney-Berichtes. Und der Irak ist mit seinen 11 Prozent Weltölvorkommen der erste Mosaikstein - dahinter lauern möglicherweise Saudi-Arabien und der Iran.

Wenn man möchte, kann man sogar noch weiter in die Geschichte zurück gehen und zeigen, dass die USA schon im Zweiten Weltkrieg versuchte hatten, die Kontrolle über die strategischen Zentren der Weltwirtschaft zu gewinnen. Noam Chomsky beschrieb in der Monthly Review vom November 1981 die Formierung der geopolitischen Strategie der USA in jener Periode so:

"Der allgemeine Rahmen, innerhalb dessen sich die außenpolitischen Überlegungen der USA nach dem Zweiten Weltkrieg bewegten, ist am besten beschrieben in den Dokumenten, die während des Krieges von den Strategen des State Departement und dem Rat für Auswärtige Angelegenheiten gefertigt wurden. Diese trafen sich sechs Jahre lang, von 1939 bis 1945, im Rahmen des War and Peace Studies Programms. Sie wussten spätestens seit 1941/42, dass die Vereinigten Staaten bei Kriegsende eine Position enormer globaler Vorherrschaft einnehmen würden. Und so stellte sich die Frage: `Wie organisieren wir die Welt?´

Sie entwarfen eine Konzeption, die als Grand Area Planning [Großgebietsplanung] bekannt wurde. Die Grand Area wird darin bestimmt als jenes Gebiet, das, in ihren Worten, `strategisch notwendig [ist], um die Welt zu kontrollieren´. Die zugrunde liegende geopolitische Analyse versuchte herauszuarbeiten, welche Weltregionen `offen´ sein müssen - offen für Investitionen, offen für die Rückführung von Profiten. Offen also für die Beherrschung durch die Vereinigten Staaten.

Damit die US-Wirtschaft ohne interne Veränderungen würde prosperieren können (ein ganz wesentlicher Punkt, der in allen damaligen Diskussionen aufscheint), also ohne Umverteilung von Einkommen oder Macht oder strukturelle Modifikationen, hatte dem War and Peace Program zufolge das für die strategische Kontrolle über die Welt notwendige Gebiet zumindest die gesamte westliche Hemisphäre, das frühere, jetzt in Auflösung begriffene Britische Empire und den Fernen Osten zu umfassen. Das war das Minimum - das Maximum war das Universum.

Irgendwo zwischen beidem war die Konzeption der Grand Area angesiedelt - und die Aufgabe, sie in Form von Finanzinstitutionen und Finanzplanung zu organisieren. Dies war der Rahmen, der für die gesamte Nachkriegsperiode gültig blieb."

(Zit. nach H. Magdoff u.a. "Die imperialen Ambitionen der USA und der Irak". In: Marxistische Blätter, Special zum Irakkrieg, 1/2003, S. 5f)

Entscheidend für die gesamte Konzeption der Grand Area war demnach die Kontrolle des Mittleren Ostens, der als Teil des alten Britischen Empire betrachtet wurde und als absolut unentbehrlich für die wirtschaftliche, militärische und politische Kontrolle über den gesamten Globus galt - nicht zuletzt deshalb, weil dort der größte Teil der bekannten Welterdölvorräte lag. Die Vereinigten Staaten starteten deshalb in den 1950er Jahren eine lange Reihe offener und verdeckter Interventionen in der Region, deren erste und wichtigste der Sturz der demokratisch gewählten Mossadegh-Regierung im Iran war, die ausländische Ölgesellschaften nationalisiert hatte. Der US-amerikanische Großangriff war ein klarer Erfolg. Zwischen 1940 und 1967 steigerten die US-Gesellschaften ihre Kontrolle über die Ölreserven des Mittleren Ostens von 10 auf nahezu 60 Prozent, während die unter britischer Kontrolle stehenden Reserven von 72 Prozent 1940 auf 30 Prozent 1967 abnahmen (ebd. S. 6) Mit der Verstaatlichung der ausländischen Erdölgesellschaften im Irak durch die regierende Baath-Partei 1972 und die Revolution der Ayatollahs im Iran 1979 sank der Einfluss Großbritanniens und der USA erheblich. Dennoch blieben die angloamerikanischen Konzerne führend in der Ausbeutung des Nahostöls. Das meiste davon wurde aber in Saudi-Arabien realisiert, einem Land, dem man am ehesten zutraut, dass es vollends unter den Einfluss islamistischer Fundamentalisten gerät, auf die sich die USA langfristig nicht werden stützen können. So gesehen ist der Griff der USA nach dem irakischen Öl ein Teil ihrer "Diversifizierungsstrategie".

Die US-Amerikaner sagen das übrigens viel unverblümter, als wir uns das zu denken getrauen. Jay Bookman, Redakteur und Leitartikler des "Atlanta Journal Constitution, schrieb am 29. September 2002 folgendes:

"Die offizielle Version der Irak-Geschichte hat noch nie Sinn gemacht... [Die angedrohte Invasion] hat nichts zu tun mit Massenvernichtungswaffen oder Terrorismus oder Saddam oder UN-Resolutionen. Dieser Krieg, so er denn kommt, soll dazu dienen, den Status der Vereinigten Staaten als flügge gewordenes Weltreich zu bestätigen, das die alleinige Verantwortung und Autorität des Weltpolizisten übernimmt. Es wäre die Krönung eines Plans, an dem seit zehn oder mehr Jahren gearbeitet wurde und der jetzt verwirklicht wird von denen, die überzeugt sind, dass die Vereinigten Staaten die Gelegenheit zur Weltherrschaft ergreifen müssen, selbst wenn dies bedeutet, dass wir die ‹amerikanischen Imperialisten› werden, die wir unseren Feinden zufolge immer waren... Rom hat sich nie zu Containment [einer Politik der Eindämmung] herabgelassen; es hat erobert. Und das sollten auch wir tun."

(Zit. n. ebd. S. 6)

Das "alte" Europa und die "Internationale des Friedens"

Genau hierin liegen wohl auch die Gründe, warum sich das "alte Europa" quer stellt. Die Europäer befinden sich eigentlich in einem Dilemma der besonderen Art. Die meisten europäischen Staaten, unter ihnen vor allem Deutschland, Frankreich, Belgien und Österreich, bevorzugen gegenüber dem Nahen Osten eher eine Politik der wirtschaftlichen Kooperation und des politischen und sozialen Wandels. Immerhin hat eine solche Strategie im Rahmen der KSZE schon einmal funktioniert: Die sozialdemokratische Formel der siebziger Jahre vom "Wandel durch Annäherung" hat mit dem Dahinscheiden des Realsozialismus und dessen sanfter "Übernahme" durch den Westen Ende der achtziger Jahre doch späte Früchte getragen. Aus dieser Perspektive erklärt sich das Nein der meisten europäischen Staaten zu den US-Kriegsplänen als plausible Alternative. Auf der anderen Seite läuft das kontinentale Europa (Großbritannien stand als Kriegsgefährte der USA immer schon fest) Gefahr, bei einer Kriegsabstinenz nicht in den Genuss der "Kriegsbeute" zu kommen. Und es geht neben dem Öl um nichts geringeres als um die Neuordnung der gesamten Region.

Die inkonsequente Nein-Haltung der Bundesregierung und das theoretische Offenhalten der Kriegsfrage durch Frankreich sind letztlich ein Reflex dieses Dilemmas. Für Frankreich und Russland kommt hinzu, dass sie beide über eine Reihe von Vorverträgen mit dem Regime in Bagdad zur Förderung irakischen Erdöls verfügen, die hinfällig würden, wenn die USA den Krieg allein führen und gewinnen. Vermutlich nützte Frankreich aber auch ein Mitmachen als "Juniorpartner" der USA nicht viel - so einfach erwirbt man im knallharten Ölgeschäft keine Zuschläge! Der günstigste, aber eben unwahrscheinlichste Fall war daher aus französischer Sicht der Verzicht auf die militärische Option.

Neben zahlreichen europäischen Regierungen haben sich fast alle Staaten der Welt gegen den Krieg ausgesprochen. Zusammen mit einer weitgehend geschlossenen Front der "öffentlichen Weltmeinung", einer zuletzt rasant wachsenden und global agierenden Friedensbewegung (die ich die "Internationale des Friedens" nennen möchte) und der zunehmenden Kritik in "God's own country" geriet die US-Administration immer mehr in die Defensive. Der Gang vor den UN-Sicherheitsrat sollte ein Befreiungsschlag für die USA werden, die sich schon im November eine kriegslegitimierende Resolution erhofft hatten. Statt dessen sprang lediglich eine zwar für den Irak überaus harte, für die USA aber unzulängliche weiche Resolution 1441 (2002) heraus, die keine Kriegsermächtigung darstellte. Die Vetomächte Frankreich, Russland und China hatten bei der Erarbeitung der Resolution und vor der Abstimmung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie keinerlei Automatismus zum Krieg enthielte. Ein großer Teil der Verantwortung wurde in die Hände der UN-Waffeninspekteure gelegt. Ihr Vorgehen, ihre Berichte und Empfehlungen sollten das Drehbuch des Geschehens zunächst bis zum 14. Februar bestimmen. Die Isolierung der USA und ihrer Verbündeter - neben dem treuen Pudel Blair waren das Ende Januar noch ein paar europäische Abweichlerregierungen wie Spanien und Italien - war in dieser Phase so vollständig, dass die Kriegstreiber mit allen möglichen Tricks versuchten, den UN-Sicherheitsrat doch noch auf ihre Seite zu ziehen und eine zweite, kriegslegitimierende Resolution zu verabschieden. Erst als dies nicht gelang, setzte die Kriegsallianz alles auf eine Karte und begann den Krieg am 20. März nicht nur ohne UN-Mandat, sondern gegen den ausdrücklichen Willen der Mehrheit der UN-Sicherheitsrats und der UN-Waffeninspekteure.

Die USA mögen diesen Krieg nach Belieben gewinnen - die Tatsache, dass er überhaupt geführt wird und die Umstände, unter denen er zustande kam, zeigen, dass dieser Krieg eine schwere Niederlage für die Vereinigten Staaten darstellt. Ihr politischer Einfluss entwickelt sich in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer militärischen Stärke. Dies ist ein Trost, aber auch eine anhaltende Bedrohung für die Menschheit.

Dennoch: Der Aufschwung der Friedensbewegung in den letzten Wochen vor dem Krieg und während des Krieges deutet an, welche politische Kraft künftig die gesellschaftlichen Alternativen zum hegemonialen Kriegskapitalismus der USA und anderer Mächte annehmen können. Mit der Großdemonstration in Berlin am 15. Februar 2003 ist die Friedensbewegung endgültig aus dem Schatten der 80er Jahre herausgetreten und hat sich als runderneuerte außerparlamentarische Kraft im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik Respekt verschafft. Noch nie war außerdem so deutlich, dass die deutsche Friedensbewegung Teil einer weltweiten Bewegung gegen Krieg und neoliberale Globalisierung ist. Ohne auf weltweite Organisationsstrukturen zurückgreifen zu können, hat sich mittels Nutzung der modernen Kommunikationstechnologien eine nicht nur virtuelle "Internationale des Friedens" etabliert. In ihr wirken keine hierarchischen Organisationsprinzipien, sondern freiwillige Übereinkunft aufgrund ähnlich gelagerter Interessen und politischer Ziele.

Die gegenwärtige Phase der Friedens- und Antikriegs-Bewegung bezieht (wieder) ganz neue gesellschaftliche Gruppen ein. Zu nennen sind hier in erster Linie Jugendliche, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Grundfrage menschlicher Existenz (Krieg-Frieden, Tod-Leben) konfrontiert sind und auf die Straße gehen oder noch weiter gehende Aktionen in Erwägung ziehen (Schulstreiks u.ä.). Auch wenn klar ist, dass die meisten Aktivisten dieser Schüler/innen-Bewegung sich nur vorübergehend friedenspolitisch (im engeren Sinn) engagieren, ist es wichtig, die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit ihnen zu suchen, sie nach Kräften in ihren eigenständigen Aktivitäten zu unterstützen und - vor allem - wo es geht das politische Gespräch mit ihnen zu führen.

Die Bevölkerungsmehrheit gegen den Irakkrieg ist politisch natürlich nicht homogen. Gewiss haben auch viele Demonstranten in Berlin die Bundesregierung in ihrer Nein-Position unterstützen wollen. Insofern entsprach der "regierungsfreundliche" Teil der Schlusskundgebung (die Reden von Schorlemmer und Bsirske) der politischen Neigung eines mehr oder weniger großen Teils der Demonstranten. Nur: Auch sie gehen wesentlich weiter in ihrer Kritik an der Regierungspolitik und in ihren Forderungen an die Regierung, als die rot-grünen Parteiformationen es gern hätten. Egal wohin man kommt: Den meisten Beifall erhält man heute, wenn man von der Bundesregierung in der Irakfrage neben dem verbalen Nein auch die dazugehörigen Taten einfordert. Dies sollte die Friedensbewegung verstärkt tun, nicht weil sie die Bundesregierung "vorführen" will (das erledigt sie sehr erfolgreich ja schon selber), sondern weil dieser Punkt gerade während des Krieges noch an praktischer Bedeutung gewonnen hat, weil Deutschland aktive Beihilfe leistet!

In der Bevölkerung hat sich ein erstaunlich klares Bewusstsein bezüglich der wahrscheinlichen Beweggründe der US-Regierung für ihren Krieg gegen Irak gebildet. Leserbriefe sowie Publikumsreaktionen bei Fernsehdiskussionen, aber auch eigene Alltagserfahrung zeigen, dass die US-Regierung in den letzten Monaten mehr zur politischen Bildung beigetragen hat, als es jahrelange Zirkelschulungen in Politökonomie gekonnt hätten. Jeder Tankwart weiß heute, dass es den USA im Irak-Konflikt weder um Menschenrechte oder um Massenvernichtungswaffen, noch um die Bekämpfung des Terrorismus zu tun ist, sondern dass es ihnen hauptsächlich um die Kontrolle der Erdölvorräte des Nahen Ostens sowie um geostrategische Vorteile gegenüber dem "Rest der Welt" geht.

Erfahrungsgemäß lässt der Widerstand einer Bewegung nach, wenn ihr unmittelbares Ziel nicht erreicht wurde. Dies war der Fall nach der Stationierung der Atomraketen im November 1993, nach dem Beginn des Golfkrieg 1991 und nach dem Beginn des Afghanistan-Kriegs im Oktober 2001. Es ist generell schwer, einem solchen "Abschlaffen" der Bewegung vorzubeugen. Soweit der Grund dafür aber darin zu suchen ist, dass die Bewegung gegen den drohenden Irak-Krieg in erster Linie eine reine Anti-Bewegung war bzw. ist, könnte der Gefahr des Zurückfallens dadurch teilweise vorgebeugt werden, dass die Friedensbewegung ihre Alternativen zum Krieg deutlicher zum Ausdruck bringt, ihre Anti-Haltung (die muss natürlich bleiben!) also durch ein Pro ergänzt. Dieses Pro sollte über noch relativ allgemeine Formulierungen wie etwa "Eine andere, friedlichere Welt ist möglich" hinausgehen und konkrete Ziele formulieren. Dabei kann an den gegenwärtigen Irak-Konflikt angeknüpft werden: Das Ziel einer Beseitigung und Unschädlichmachung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme sollte nicht nur für den Irak, sondern für alle Staaten geltend gemacht werden. Der Demilitarisierung des Irak muss die Abrüstung anderer Länder der Region folgen. Regionale Sicherheit im Nahen Osten wird langfristig nur auf der Basis gleichberechtigter Beziehungen zwischen strukturell angriffsunfähigen Staaten (einschließlich eines palästinensischen Staates) herzustellen sein. Ähnlich verhält es sich mit der Forderung, dem internationalen Recht mehr Geltung zu verschaffen. Das strikte Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen und die universellen Menschenrechte müssen von allen Staaten respektiert werden. Schließlich sollten die Teileinsichten der Bevölkerung in globale ökonomische und ökologische Zusammenhänge genutzt werden, um praktikable Alternativen zum verschwenderischen und zerstörerischen Kapitalismus zu diskutieren.

Es gibt also viel zu tun für die Friedensbewegung, vor allem jetzt in Kriegszeiten, aber auch danach.

* Grundlage dieses Textes bilden zwei Referate des Autors: Ein Vortrag beim Dresdener Friedenssymposium am 22. Februar 2003, also noch vor dem Beginn des Irakkriegs, und ein Referat beim Kieler Friedensbündnis am 1. April.