Abschied vom Alditürken

Die Berliner Agentur Lab One schafft eine neue Datenbasis für Ethno-Marketing.

Von Anja Dilk

Der Türke liebt Gemüse und Fladenbrot. Schickt monatlich einen Batzen Geld in die Türkei. Und fährt einen zerbeulten Ford Taunus. Wenn überhaupt Werbung, dann gehört sie in türkische Zeitungen und kann billig sein. Richtig? Falsch! Kaum eine Gruppe ist so heterogen wie die der Deutschtürken, so konsumfreudig und markenbewusst.

Der Türke kauft gern billig. Er liebt Aldi und überquellende Marktstände. Er schickt monatlich einen dicken Batzen seines Gehalts nach Hause und träumt von seiner Rückkehr in die Türkei. Die dazugehörige Türkin trägt ein Kopftuch, lebt unter der Knute ihres Mannes und spricht kein Wort deutsch. Sie hat einen Stall von Kindern und geht auch zu Aldi oder in türkische Supermärkte, in denen sie gerne plastiktütenweise Gemüse, Fladenbrot und Hammelfleisch kauft. Der Türke und seine Frau lesen am liebsten Hürriyet. Wenn sie da eine schöne Anzeige sehen, riskieren sie schon mal eine kleine Extraausgabe. So sind sie, die Türken, ist doch klar. Oder nicht?

Seit 1996 schlagen sich Ozan Sinan und Ahmet Tasdemir durch das Gestrüpp der Vorurteile. Jahrelang zogen die Marketingprofis von der Berliner Agentur Lab One durch die Unternehmen der Republik und versuchten den obersten Köpfen der Marketingabteilungen beizubringen, dass es so einfach nicht ist. "Die Wahrnehmung von Türken, die in Deutschland leben, ist oft unheimlich einseitig. Sie orientiert sich meist noch an der alten Generation türkischer Gastarbeiter", sagt Agenturgründer Sinan, der Mitte der 90er Jahre die deutsch-türkische Hip-Hop-Gruppe Cartel gemanagt hat. "Doch da hat ein enormer gesellschaftlicher Wandel stattgefunden. Mittlerweile ist die junge Generation viel entscheidender in den Haushalten. Die Deutschtürken der zweiten und dritten Generation sind hier aufgewachsen, wurden oft hier geboren. Sie haben ganz andere Werte, Lebensstile und Konsumeinstellungen als die Elterngeneration."

Cocktaillounge und Ramadan

Doch welche sind das? Um das herauszufinden, hat das Lab One-Team gemeinsam mit der Berliner Gesellschaft für innovative Marktforschung (GIM) von Juli bis Dezember 2001 Türken in Berlin und Mannheim unter die Lupe genommen. In Experteninterviews, Kleingruppengesprächen und umfangreichen Telefonbefragungen entstand eine breit angelegte Studie über Habits, Überzeugungen und Lifestyle der türkischen Bevölkerung im Alter von 14 bis 49 Jahren. Seit ein paar Wochen liegt die Studie "Lebenswelten Deutschtürken 2002" auf dem Tisch. Fazit: Es sind eben nicht alle Deutschtürken Muslime, schon gar nicht kaufen alle bei Aldi. Ausgeprägtes Trendbewusstsein, Begeisterung für Marken- und Designermode, Cocktaillounge und Fondssparen gehören ebenso zum türkischen Leben in Deutschland wie Ramadan und der Respekt vor Eltern und Traditionen. Die traditionelle Rollenverteilung gerät ins Wanken, Frauen streben immer mehr nach höherer Bildung. Über die Hälfte liest gleichermaßen deutsche und türkische Zeitungen. 70 Prozent können sich nicht vorstellen, in die Türkei zurückzugehen. Die Mehrheit findet, dass die deutsche Gesellschaft genug Spielraum für die Ausübung ihrer Kultur und Religion bietet. Sinan: "Um diese Menschen in der Werbung anzusprechen, brauchen wir speziell auf sie zugeschnittene Konzepte."

Und das lohnt sich. Etwa 2,6 Millionen Menschen türkischer Abstammung leben in Deutschland, eine halbe Million davon mit deutschem Pass. In den türkischen Familien schlummert ein beachtliches Konsumentenpotential. Das monatliche Nettoeinkommen der türkischen Haushalte liegt bei 2.000 Euro, 97 Prozent davon geben die Türken in Deutschland aus. Das entspricht einer jährlichen Kaufkraft von mehr als 17 Milliarden Euro. Etwa 80 Prozent der Türken sind zwischen 14 und 49 Jahren alt. Damit stellen Türken fünf Prozent der "werberelevanten Gruppe", obwohl sie nur knapp drei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Obendrein sind türkische Haushalte sehr konsumfreudig, auch dank ihrer üppigen Familien. Während in einem deutschen Haushalt durchschnittlich 2,2 Personen leben, wohnen in einem türkischen vier.

Neu sind diese Erkenntnisse nicht. Auf das gewaltige Potential der türkischen Verbraucher verwies schon 1997 eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GFK) im Auftrag des TV-Werbezeitenvermarkters IP Deutschland. Doch im Gegensatz zu den USA oder Frankreich, wo Marketing zugeschnitten auf einzelne Ethnien längst Usus ist, tänzeln hierzulande viele Unternehmen noch immer zögerlich um die türkische Zielgruppe herum. Mit behutsam steigender Tendenz. Lab One-Gründer Sinan erinnert sich noch gut an die Anfänge: "Mercedes war das erste Unternehmen, das türkische Konsumenten Anfang der 80er Jahre als spannende Zielgruppe entdeckte." Das lag auch an der engen Bindung von Konzernchef Edzard Reuter an die Türkei, wo er geboren wurde. Doch vor allem waren Türken die ideale Zielgruppe für den Gebrauchtwagenmarkt der süddeutschen Renommierschlitten. Nirgends sonst fanden drei bis vier Jahre alte Daimler so guten Absatz wie bei den türkischen Käufern. In Werbespots lockten die Stuttgarter Autobauer mit solidem Markenimage und erstklassigem Statussymbol die türkische Kundschaft. Da kutschiert etwa ein blumengeschmückter Mercedes ein glückliches Hochzeitspaar durch die anatolische Landschaft. Vor der Dorfkirche warten Hunderte fein geschniegelter Gäste. Über die Szenerie legt sich die sonore Stimme des türkischen Sprechers: "Nicht nur die Ehe hält bis ans Lebensende, sondern auch der Wagen." Nur allmählich bemerkt man den türkischen Kunden


Mitte der 90er zogen andere nach. Allen voran die Branchen Telekommunikation, Energie und Fernsehtechnik. Die Türken in Deutschland waren Telefonfreaks, nirgendwo sonst boomten Auslandsgespräche und die Nachfrage nach Handys so wie bei ihnen. Außerdem verbrauchten die großen, türkischen Haushalte viel mehr Strom als die deutschen Kleinfamilien. Sie liebten Satellitenschüsseln, weil sie türkisches TV sehen wollten. Doch wie gesagt: Der türkische Konsument gerät nur langsam ins Blickfeld. Gaben deutsche Firmen 1998 gerade mal 23 Euro pro Kopf für die Werbung türkischer Konsumenten aus (300 Euro pro Kopf für deutsche Verbraucher), so stieg das Werbevolumen bis 2001 auf 30 bis 35 Euro. Verwunderlich, denn längst ist Unternehmen klar: Werbung, die sich lohnt, muss ihre Kunden möglichst zielgruppenspezifisch ansprechen. Nur wer Werte und Lebensstil, den "Mindset" (Sinan) seiner Kunden genau trifft, hat eine Chance, den Kunden an der Achillesferse seiner Konsumgelüste zu packen und zu einer Kaufentscheidung zu bewegen. Einen deutschen Werbespot einfach zu übersetzen, kann dabei gründlich in die Hose gehen. Nicht nur, dass der türkische Betrachter seine Lebenswelt in einer sonnensauberen Blondinenwerbelandschaft von Jacobs Café kaum wieder findet. Nicht nur, dass sich der türkische Kunde als Kunde zweiter Klasse fühlen kann. Treffliche Stolpersteine sind auch ethische Normen. Ariels Klementine käme bei türkischen Hausfrauen nicht allzu gut an. Erk Güner von der Berliner Werbeagentur WFP, die für Daimler türkische Spots produzierte, warnte schon vor zwei Jahren vor derart unausgereiften Konzepten: "Die Waschmaschine in der Küche zu haben ist für Türkinnen undenkbar."

Wie sehr deutsche Unternehmen von Ethno-Marketing entfernt sind, merkt das Team von Lab One auf seinen Touren durch die Unternehmen immer wieder. Es hakt am Bewusstsein und an geeigneten Werbemedien, über die sich die Deutschtürken gezielt ansprechen lassen. Die Leserschaft von ehemaligen Stammzeitungen wie Hürriyet bricht weg, zu sehr ist die Zeitung aus der Türkei von den Lebensverhältnissen der jungen Deutschtürken entfernt. Kein anderes Magazin trat bisher an ihre Stelle. Noch immer gelten die Türken als billige Kunden mit niedrigen Ansprüchen, die sich mit wenig Mitteln cashen lassen. "Dieses Bild haben die türkischen Medien in Deutschland jahrelang gefördert", sagt Ethno-Marketing-Profi Sinan. "Sie sagten: Werbt bei uns, hier ist es billig und ihr erreicht alle. Das ist längst überholt."

Vor allem haben viele Marketingmanager nur eine diffuse Vorstellung von den türkischen Konsumenten und kaum Erfahrungen mit ihnen. Die nachwachsende Generation der Deutschtürken hat sich der Lebenswelt und den Werten der deutschen Gesellschaft in vielem angenähert. Was brauchen wir da eine zielgruppenspezifische Werbung? Dann können wir sie doch über deutsche Medien erreichen, heißt es oft. Ozon Sinan von Lab One: "Viele machen sich nicht klar, dass es sich um eine Mischkultur handelt. Die Identität vieler Deutschtürken ist geprägt sowohl von der deutschen Gesellschaft als auch von Werten, Traditionen und Lebensstil, die sie in ihrem türkischen Elternhaus kennen gelernt haben." Doch was genau sind die Werte dieser Generation? Welche Konsumgewohnheiten und Lebenseinstellungen haben die Deutschtürken der zweiten und dritten Generation? Es hapert an fundierter Marktforschung. Kaum ein Unternehmen ist bereit, da zu investieren.

Berlin Kreuzberg, Ecke Oranienstraße. Im ersten Stock des 60er-Jahre-Baus sitzen Ozan Sinan und Ahmet Tasdemir am weißen Konferenztisch vor ihrer Power-Point-Präsentation. Zwar gibt es mittlerweile einige Studien zu Konsumverhalten und Einstellungen von Deutschtürken, wie die Sinus Milieustudie vom vergangenen Jahr. Doch "Lebenswelten 2002" ist die erste detaillierte Untersuchung zu den Lebensorientierungen dieser Gruppe. "Wir wollten eine solide Datenlage schaffen als Basis für eine ganz spezifische Werbung um deutschtürkische Kunden. Nach welchen Werten richtet sich diese Bevölkerungsgruppe? Wie ist sie integriert? Wie sind ihre Einstellungen zu Familie und Religion, Integration und Konsum?", sagt Ahmet Tasdemir.

Ergebnis: eine sehr heterogene Gruppe: Da sind etwa die Konservativen, die traditionell sind und familienorientiert, bescheiden leben und die türkische Identität pflegen. Da sind die Skeptiker, die deutsche und türkische Freunde haben, Hip-Hop hören, Mode mögen und Marken schätzen, die keine klare nationale Identität haben, eher intolerant sind und spaßorientiert. Da sind die Bikulturellen, die einen gemischten Freundeskreis haben, viel Geld für Ausgehen und Designerklamotten ausgeben, tolerant und integrationsbereit sind. Da sind die Materialisten, anpassungsbereit, modebewusst, offen und türkisch geprägt. Und die Intellektuellen, wenig gläubig, antitraditionell, wenig mode-, aber sehr gesundheitsbewußt, geistig offen und ohne türkischen Patriotismus.

Die Taschen voller Detaildaten machen sich Sinan und Tasdemir nun wieder auf Tour durch deutsche Unternehmen. Um den Marketingmanagern die Augen zu öffnen über Klischees und das Potential der lange ignorierten Zielgruppe.

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